Die verborgene Gegenwart Gottes
Jüdische Menschen können zweimal Neujahr feiern; einmal nach idem jüdischen Mondkalender, begleitet von den den lauten Tönen des Schofar-Horns; dann nach dem christlichen Kalender mit Böllern und Raketen. Dass es noch ein drittes jüdisches Neujahrfest gibt, ist weniger bekannt. Es ist Tu be Schewat, wörtlich der 15. Schewat, das Neujahr der Bäume. Der 15. Schewat liegt am Ende der israelischen Regenzeit, bei uns ist das etwa in der Mitte des Winters. Das Neujahr der Bäume geht religionsgeschichtlich auf die Agrargesellschaft zurück, denn nun am Ende der Regenzeit konnte man neue Bäume pflanzen und die Felder neu bestellen. Bei jüdischen Mystikern des 16. Jahrhundert gab es einen besonderen Brauch für den Seder (den Freitagabend) des Tu be Schewat: vier Gläser Wein werden getrunken. Das erste Glas ist Weißwein, beim zweiten Glas wird zum Weißwein ein wenig Rotwein hinzugefügt; beim dritten Glas wird zur Hälfte Weißwein und zur Hälfte Rotwein verwendet; beim vierten Glas gibt man in den Rotwein ein paar Tropfen Weißwein. Nach einer Deutung der Mystik, steht die Farbe Weiß für den Schöpfer und für das Sperma des Mannes. Die Farbe Rot aber steht für die Schöpfung und für das das weibliche Blut.„Die wenigen Tropfen Weißwein im 4. Glas weisen auf die verborgene Gegenwart G’TTes in unserer Welt hin“, als ich diese Deutung auf der jüdischen Internetseite HaGil.com entdeckte, war ich tief bewegt. Jeder Mensch kennt diese verborgene Gegenwart Gottes, die manchmal ganz hell und warm wie die Sonne ist, ein andermal aber kalt und dunkel wie der Weltraum. Die jüdischen Theologen nach dem Exil haben nicht zufällig zwei Schöpfungsberichte in den Kanon der heiligen Schriften übernommen. Der erste Schöpfungsbericht (Buch Genesis 2,4b – 24) zeigt G’TT in der Nähe der Menschen. ER ruft diese in Sein SEIN, gibt ihnen Lebensraum, bewahrt sie nicht vor Gefahr und Versagen, selbst wenn ER nicht da ist, ist er doch da. Ein Windhauch genügt und ER wird erfahrbar .Ganz anders ist G’TT im priesterlichen Bericht (Buch Genesis 1,1 – 2,4a), mit dem die Thora beginnt. Der Kosmos mit Sonne, Mond und Sternen reicht nicht aus, um den Schöpfer zu beschreiben. Auch ist G’TT nicht da, nur sein schöpferisches WORT. Der Mensch ist zwar herausgehoben, aber dennoch nur Teil der Schöpfung. Er ist Abbild (hebr. ZELMANO) mit Schatten (hebr. ZEL). Jeder Mensch soll G’TT widerspiegeln, aber da gibt es die vielen Schatten im Menschen, die G’TT verdunkeln. Die heiligen Bücher erzählen von den Wegen, die Schatten los zu werden und G’TT zu begegnen. In der Bibel beginnt diese Geschichte bei Adam und Eva, dann folgen Kain und Abel, Abraham und die Patriarchen, Moses, David, die Propheten, bis hin zu diesem jüdischen Mystiker Jesus aus Nazaret, dessen Leben in einem Stall begann. Auch woanders, auch heute ist die Geschichte der Schöpfung die Suche der Menschen nach der verborgenen Gegenwart G’TTes. Deshalb tragen wir in unserem Herzen die Sehnsucht nach G’TT. Deshalb heißt es in einem Jesuslogion: „Sucht, dann werdet ihr finden, klopft an, dann wird euch geöffnet“. (Matthäusevangelium 7,7) Oder wie es der kleine Prinz sagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“
(Erstveröffentlichung im Weihnachtsbrief 2009)