Was sagte Kain dem Abel? Wie das Böse vor unserer Tür hockt.

 

Marc Shagall malt die Geschichte von Kain und Abel. Dabei gibt er dem Abel das Gesicht eines Mädchens und erinnert so an die weltweite Gewalt der Männer gegenüber Frauen und Mädchen. Quelle:  Chagall-  _ und Bibelausstellung Kandel 2003_ httpwww.pwhdesign.dechagall_kandelChagall_bibel8.jpg

Marc Shagall malt die Geschichte von Kain und Abel. Dabei gibt er dem Abel das Gesicht eines Mädchens und erinnert so an die weltweite Gewalt der Männer gegenüber Frauen und Mädchen. Quelle: Chagall- _ und Bibelausstellung Kandel 2003_ httpwww.pwhdesign.dechagall_kandelChagall_bibel8.jpg

 

Einstimmung:

Meldung eins: Am 29. September 1941 wurden 33 771 jüdische Männer, Frauen und Kinder teils zu Fuß, teils mit Lastwagen,  von Kiew zu der nahe gelegenen „Großmütterchen-Schlucht“ Babij Jar gebracht, nackt bis zu einem zehn Meter tiefen Abgrund getrieben und hier von einer Kompanie SS-Männer erschossen. Zwei Tage lang dauerte das Massaker. Mehr als hundert Lastwagenladungen Kleidung wurden für die NS-Wohlfahrt abtransportiert. Um Spuren zu beseitigen, sprengten Pioniereinheiten der Wehrmacht anschließend die Felswände der Schlucht.

Meldung zwei: Am 16. Dezember 2012 machten 6 junge Männer in Neu Dehli mit einem ausrangierten Bus eine Männertour durch die Stadt. Aus Spaß ließen sie eine 23-jährige Krankenschwester mit ihrem 28-jährigen Freund zusteigen.  Die beiden waren auf dem Heimweg von einem Kinobesuch. Dann schlugen die Huligans den jungen Mann mit einer Eisenstange zusammen und vergewaltigten einer nach dem anderen die junge Frau – und zwar stundenlang.

Meldung drei: Zwei Berliner Rechtsmediziner haben ein Buch herausgebracht mit dem Titel „Deutschland misshandelt seine Kinder. Es prangert das Versagen der deutschen Jugendämter an. Die Polizeigewerkschaft schätzt, dass in Deutschland pro Woche drei Kinder durch Misshandlung der eigenen Eltern sterben.

Drei Meldungen  – willkürlich herausgegriffen. Weil wir Menschen Teil der Natur sind, unterliegen wir dem unerbittlichen Entwicklungsgesetz der Evolution;  und das heißt: Verdrängen oder selbst verdrängt werden. Wir sind in die Evolution so stark eingebunden, dass wir uns nur mit der ganzen Anstrengung unseres Geistes  humanisieren und kultivieren können. Aber weil die Humanität kein bleibender Besitz ist sondern nur zeitweiliges Ergebnis unserer Anstrengung, ist der Rückfall in die Barbarei für Einzelne, Gruppen und ganze Völker unser ständiger Begleiter. Die Frage nach dem Bösen, das vor unseren Türen hockt, war eine Kernfrage der jüdischen Theologen bereits in früher Zeit. Im Jahre 597 v.der Zeitenwende  wurde die ganze Elite des jüdischen Volkes nach Babylon deportiert. „An den Flüssen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten“, erinnert bis heute der Psalm 137 daran. Neben der Frage nach den Ursachen des Unheils für das Volk  waren es die großen Menschheitsfragen nach Leben und Tod, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, die Bedrängnisse durch die Gefahren der Natur und die Feindschaften unter den Völkern. Und hinter all diesen Schicksalsfragen stand die Frage nach dem Gott der Väter. Als der persische Kyrios nach 50 Jahren die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte, nahm die lange Kolonne der Heimkehrer auf den Papyrusblättern und Pergamentrollen eine neues Welt- und Gottesbild mit. Die Erfahrungen des eigenen Volkes und die uralten Geschichten aus dunkler Vergangenheit waren zu einer neuen Synthese verbunden und werden nun als Thora das jüdische Leben bestimmen. Neue Lieder werden sie singen und die heilige Stadt Jerusalem wieder aufbauen.

Eine der gesammelten alten Geschichten, die wir seit unserer Schulzeit kennen, ist die Geschichte,

Wie Kain den Abel erschlug?

In Anlehnung an den hebräischen Urtext.

(Nuch Genesis 4,1-17)

Und der Mensch erkannte Eva, seine Frau, und sie empfing und gebar den Kain. Und sie sagte: Ich habe mit Adonai[1] einen Mann erworben. Und sie fuhr fort zu gebären seinen Bruder, den Abel. Und Abel hütete eine Herde und Kain bearbeitete den Ackerboden. Und es geschah am Ende von Tagen, da brachte Kain von der Frucht des Ackerbodens eine Gabe für Adonai. Und Abel, er brachte auch von den Erstlingen seiner Herde und ihrem Fett. Und Adonai achtete auf Abel und auf seine Gabe, aber auf Kain und seine Gabe achtete ER nicht. d in Kain brannte es und sein Gesicht senkte sich. Da sagte Adonai zu Kain: Warum brannte es in dir und warum senkte sich dein Gesicht? Ist es nicht so, wenn du gut handelst, trägst du hoch (dein Gesicht), und wenn du nicht gut handelst, verlangt lauernd nach dir am Eingang der Fehltritt. Aber du sollst ihn beherrschen.. Und es sprach Kain mit seinem Bruder Abel. Dann geschah es bei ihrem Sein auf dem Feld. Da stand Kain gegen seinen Bruder Abel auf und schlug ihn tot. Da sagte Adonai zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Er sprach: Ich weiß es nicht. Bin ich etwa der Hüter meines Bruders. Und Er sagte: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders Abel schreit vom Ackerboden zu mir. Und nun –  Du (bist) verflucht von der Ackererde, die ihren Mund aufgetan hat, das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du mit deiner Hand bearbeitest die Ackererde, wird sie nicht fortfahren, dir Ertrag zu geben. Unstet und flüchtig wirst Du sein im (ganzen) Lande. Da sprach Kain: Du vertreibst mich heute von er Ackererde und vor deinem Antlitz. Ich muss mich verbergen. Ja ich werde unstet und flüchtig sein im (ganzen) Lande. Und es wird geschehen, jeder der mich findet, kann mich töten. Da sagte ihm Adonai: Vielmehr jeder der Kain tötet, wird siebenfach gerächt. Und es machte Adonai dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn findet. Darauf ging Kain weg vom Angesicht Adonais und er wohnte im Lande Nod östlich von Eden.

Kommentar: Das hebräische Wort „Wayomer“, – übersetzt „Und er sprach“ –  verbindet diese Geschichte mit dem ersten Schöpfungsbericht, der Ackerboden erinnert an den zweiten. Warum Gott das Opfer des Kains nicht annahm, wird nicht gesagt und bleibt offen. Den jüdischen Rabbinen genügte als Erklärung, der Hinweis auf das Pascha-Lamm.  Stark ist das Bild vom Bösen, das vor der Tür lauert. Es erinnert an den 1. Petrusbrief, wo das Böse „wie ein brüllender Löwe umhergeht, suchend, wen er verschlinge.“ Die Antwort der Bibel: „Du sollst das Böse beherrschen“ ist eine erstaunlich moderne Antwort. Die Schöpfung Gottes ist als Werdewelt kein Paradies, damit auch das Leben der Menschen  nicht. Aber für den großen und den kleinen Terror sind wir ganz allein verantwortlich. Gott überlässt uns unserem Schicksal, das heißt, unseren eigenen Entscheidungen. Jeder von uns kann wie Abel oder wie Kain sein.

Die jüdischen Rabbinen aber hat besonders eine Frage beschäftigt, die sich nur aus dem hebräischen Text ergibt:[2]

Und es sprach Kain mit seinem Bruder Abel. Dann geschah es bei ihrem Sein auf dem Feld. Da stand Kain gegen seinen Bruder Abel auf und schlug ihn tot.

Was haben Kain und Abel besprochen? Die Geschichte erzählt es nicht. Doch im jüdischen Midrasch wird eine dreifache Antwort darauf gegeben, was Kain und Abel besprochen haben können, bevor es zur Bluttat kam:

Worüber debattierten Kain und Abel? Sie sagten: Wir wollen die Welt aufteilen! Einer nahm den Boden, der andere das Haus. Dieser sagt: Der Boden, auf dem du stehst, gehört mir! Jener sagt: Die Kleider, die du trägst, gehören mir! Jener sagt: ,Zieh sie aus! Dieser sagt: Flieg fort! Deshalb erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn. Die erste Antwort der Rabbinen: Die Gier nach Besitz war die Ursache der Bluttat.

Worüber debattierten Kain und Abel? Der eine sagt: Auf meinem Grundstück wird der Tempel gebaut! Der andere sagt: Auf meinem Grundstück wird der Tempel gebaut!‘ Denn das Feld meint nichts anderes als den Tempel, wie du liest beim Propheten Micha.[3] Deshalb erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn. Die zweite Antwort der Rabbinen: Die Gier nach Macht war die Ursache der Bluttat..

Worüber debattierten Kain und Abel? Eine Zwillingsschwester wurde zusammen mit Abel geboren. Der eine sagt: Ich nehme sie, bin ich doch der Erstgeborene! Der andere sagt: Ich nehme sie, ist sie doch mit mir zusammen geboren! Deshalb: erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn Die dritte Antwort der Rabbinen: Die Gier nach Sex war die Ursache der Bluttat.[4]

 Drei Ursachen hat das Böse:

Die Gier nach Besitz,

die Gier nach Macht,

die Gier nach Sex.

Und damit sind wir mitten in unserer Zeit. Denn Kain und Abel leben heute, hier, mitten unter uns. Sie sind keine Einzelgänger sondern ein Massenphänomen. Auch in der katholischen  Kirche, wie wir in jüngster Zeit erfahren konnten.  Ich erzähle dazu eine Geschichte:

Aufgrund der Herbststürme schaukelte die weiße Yacht hin und her, als sie von der Küstenwache entdeckt wurde. Auf dem  Luxusschiff war niemand. Man konnte dann rekonstruieren: Nach einer Party waren die Gäste mit der Mannschaft nackt ins Meer gesprungen, voll des süßen Weines, kreischend und mit Gelächter im kühlen Wasser. Weil man vergessen hatte, die Leiter herunterzuklappen, waren sie alle ertrunken.

Diese Geschichte hätte Jesus erzählen können – und er hat solche Geschichten dauernd erzählt. Weil er auch die Hohe Geistlichkeit nicht verschonte, wurde er schließlich gekreuzigt. Der römische Hauptmann war der einzige, der bei seinem Tod betete. Nein, da waren noch die Frauen. Es waren einige Frauen, schreibt der Evangelist und zählt sie einzeln mit Namen auf. Eigentlich sind diese Frauen die Säulen der Kirche.

Nicht Gier nach Besitz – sondern teilen, helfen, bescheiden und geschwisterlich leben; abgeben und die Härte der Schöpfung abmildern, wie es Adonai mit dem Kain gemacht hat. Das ist auch die Botschaft Jesu.

Nicht Gier nach Macht – sondern begleiten, die Hand reichen, aus der Grube ziehen; die Schwachen beschützen, Wunden verbinden. Für Gerechtigkeit sich einsetzen. Das ist auch die Botschaft Jesu.

 Nicht Gier nach Sex – sondern die Frauen achten und ehren. Ihnen die volle Menschenwürde zugestehen. Die Kinder beschützen und ihnen Heimat schenken. Das ist auch die Botschaft Jesu.

Unter euch soll es nicht so sein, so sagte es Jesus seinen Jüngern. Im Markusevangelium gibt es große und kleine Figuren. Die großen Figuren  sind die politischen Machthaber, aber auch die Theologen in ihren langen Talaren und mit goldenen Ringen an den Fingern. Die kleinen Figuren sind die Witwen und einfachen Leute, wie der alte Simeon und die Frau am Jakobsbrunnen. Jesus lässt keinen Zweifel, für wen sein Herz schlägt. Im Judentum gibt es bis heute die Vorstellung der Tikkùn  olàm, der Reparatur  der Welt. Gottes Schöpfung ist eine Werdewelt und Gott braucht und will uns als Reparateure. In der christlichen Tradition  haben wir die sieben Werke der Barmherzigkeit, wo wir aufgerufen werden zur Verantwortung für den Nächsten, der unter die Räuber gefallen ist.  Wie sagte Jesus? Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein. Selig seid ihr, wenn ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit (Mt. 5,5). Darum geht es. Wir sollen  Klempner Gottes sein in einer Welt, die immer noch in Wehen liegt und seufzt und ächzt unter den Gefahren ihrer Vorläufigkeit.

[1] Bereits im 6.-5. Jahrhundert wurde der Gottesname geschrieben aber nicht ausgesprochen. Um diese Praxis zu sichern, wurde, das Tetragramm nur mit Adonai = mein Herr ausgesprochen und dessen Punktuation unterlegt, allerdings diese auch noch einmal variiert.

[2] Die Einheitsübersetzung verwischt den Text:: „Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld. Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.“

[3] Micha 3,12

[4] Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, GABRIELLE OBERHÄNSLI-WIDMER, Das Böse an Kains Tür. Die Erzählung von Kain und Abel in der jüdischen Literatur.

Originalbeitrag erschienen in:Kirche und Israel 19 (2004), S. 164-181

Kittlauss Mrz 15th 2014 07:50 pm Biblische Studien,Was das Leben angeht Keine Kommentare bisher Facebook Kommentare

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