Taizé – Die Auferstehung des Katholischen – Rückblick auf meine Pilgerfahrten

 

(Erstveröffentlichung 2007)

 

 

 

Zum vierten Mal in fünf Jahren bin ich Ende Juli 2007  für  eine Woche nach Taizé gefahren. Die 623 Kilometer Fahrt über die Trierer Autobahn, Luxemburg und dann durch Frankreich bis nach Tornous in Burgund waren für mich trotz meiner fast 71 Jahre kein Problem. Nach 8 Stunden erreichte ich die Anfahrt auf den Hügel, hinter dem sich Taizé versteckt, und war hinter der letzten Kurve auf einmal wieder mitten unter Tausenden von jungen Menschen.

Von der Landstraße zweigt der Zubringer rechts ab, einige Kurven bergauf, dann liegt das Dorf vor einem.

Bevor Roger Schutz 1940 seine internationale Bruderschaft gründete, war Taizé ein Zwergdorf mit einer kleinen romanischen Kirche. Daraus ist heute durch ein Ensemble von Zelten, Baracken, Hütten und Plätzen ein international bekanntes Zentrum entstanden, eine Art spirituelles Woodstock, wie es in meinem Reiseführer heißt. Die alte Straße geht noch mitten hindurch. Die Communaute Taizè ist – angesichts der in Frankreich streng praktizierten Trennung von Staat und Kirche sehr ungewöhnlich – auf allen Zufahrtsstraßen durch große Schilder gekennzeichnet. Nach der Ankunft musste ich mich in Haus 10 melden. Da ich eine Email als Bestätigung hatte, gab es keine Probleme. Die Bruderschaft nimmt bei den Jugendwochen im Sommer immer nur 10% Erwachsene, dadurch wird verhindert, daß aus einer Jugendveranstaltung ein Seniorentreffen wird. Bei der Ankunft wurde ich fünfmal von unterschiedlichen Jugendlichen persönlich und sehr freundlich begrüßt und jedes Mal im Anmeldegedränge ein Stück weiter begleitet. Die Datenverarbeitung hat offensichtlich Taizé erreicht, denn es gab diesmal keine Probleme. „Own Tent“ stand auf meinem Laufzettel, denn ich hatte wieder mein Zelt mitgebracht und fand auch einen guten Platz auf dem Gelände der Erwachsenen. Im Sommer gehen die Begegnungen jede Woche von Sonntag bis Sonntag. Jugendliche und Erwachsene sind getrennt und kommen nur beim Gottesdienst zusammen. Man sprach von mehr als 5000 Teilnehmenden. Um 19,00 war für mich Abendbrot im Zelt der Erwachsenen. Das einfache Leben von Taizé  hatte mich eingeholt: Tablett, Teller, Blechlöffel  und eine gelbe Trinkschale aus Plastik, dazu eine Kelle Reis, eine kleine Scheibe Weißbrot, einen Apfel, drei kleine Kekse und Wasser, alles ohne Tische, das Tablett auf den Knien.

Da der Abendgottesdienst jeden Tag um 20,30 Uhr beginnt, machte ich mich bereits um 19,45 Uhr auf den Weg, um mit Rücksicht auf meine Rückenprobleme einen Platz zum Anlehnen zu ergattern. Die Jugendlichen sitzen alle dicht gedrängt auf dem Boden, die Erwachsenen auf den seitlichen Stufen oder auf schlichten Bänken im rechten Seitengang. Die Versöhnungskirche, so der offizielle Name, erinnert an den Tempel in Jerusalem mit seinen Vorhöfen. Der zentrale Kirchenraum ist eine unsymmetrische Konstruktion aus Beton mit einer Kassettendecke, davor eine Reihe von niedrigen Hallen, die sich durch Jalousien abtrennen lassen. Im Gegensatz zu unseren christlichen Kirchen geht der Blick nicht nach oben zu einem Altar sondern nach unten. Der Altarraum mit den roten Tüchern und den roten beleuchteten Hohlblockziegelsteinen zieht den Blick sofort an. Die vielen Ikonen und roten Lichter im ganzen Kirchenraum erinnern an die orthodoxe Tradition. Wer die Kirche betritt, spürt instinktiv, dass es hier und jetzt um etwas geht, das über das alltägliche Leben weit hinausgeht. Der Raum öffnet für die Begegnung mit dem unsichtbaren Gott.  Das ist wohl der tiefste Grund, warum jedes Jahr Hunderttausende junger Menschen nach Taizé kommen.

An jedem Tag gab es drei Gottesdienste: vor dem Frühstück, vor dem Mittagessen und nach dem Abendbrot. Immer war die Kirche voll bis auf den letzten Platz. Helfer rückten die auf dem Boden sitzenden Jugendlichen enger zusammen.

In der Mitte der Hallenkirche ist durch grüne Büsche ein Gang für die Brüder freigehalten. Bei jedem Gottesdienst kommen sie einzeln und gehen danach als Gruppe; eine tiefe Symbolik:  sie kommen als einzelne zu Gott und werden als Gemeinschaft von ihm entlassen. Zum Gottesdienst (und nur dann) tragen die Brüder eine hellbeige Kutte mit Kapuze. Sie knien auf ihren Bänkchen, einige wenige haben einen Stuhl mit Rückenlehne. Alle Gottesdienste begannen mit gewollter Verspätung, damit es keine zu spät Kommenden gibt. Im Unterschied zur benediktinischen Tradition war der Gottesdienst immer ein gemeinsames Tun aller, dies entsprach mir sehr. Die Brüder waren gewissermaßen die geistlichen Lehrer, die uns in ihr Beten einbezogen. Der Gesang lässt sich eigentlich nicht beschreiben, man muss ihn erleben. Er ist eine Mischung von jüdischer und ostkirchlicher Spiritualität, jesuanischer Mystik und französischer Musikalität, polnischer Leidenschaft und spanischem Selbstbewusstsein, von deutscher Innigkeit und lateinischer Zurückhaltung- und von den Stimmen Tausender junger Leute. Beeindruckend ist die zunehmende Einbeziehung von osteuropäischem Liedgut. Das Wort Synkretismus, das in christlichen Kreisen manchmal abschätzig gebraucht wird, erhält hier seinen ursprünglichen Klang zurück. Die unterschiedlichen theologischen, kulturellen und religiösen Traditionen sind ein großer Reichtum und werden ohne Konkurrenz zum Gleichklang gebracht.  In Taizé wiederholt sich gewissermaßen das Werden des Christentums. So war es geradezu selbstverständlich, dass die jungen Leute mit großer Innerlichkeit die französischen, lateinischen, polnischen, litauischen, spanischen, russischen und portugiesischen Lieder sangen, begleitet von den klaren Tönen des Keyboards, der kleinen Orgel oder einer Gitarre. Das in Taizé praktizierte Wiederholen von kurzen Texten erinnert an das Jesusgebet der russischen Starzen, an die rhythmischen Gebete der muslimischen Suffi’s, an die Gebetsformeln des tibetischen Lamaismus, an den Rosenkranz  und die Litaneien der lateinischen Kirche. Selbst in der Dusche hörte ich jeden Tag das „Beati voi poveri“ (Selig seid Ihr, wenn ihr einfach lebt) und das „Confitemini domino“ (Lasst uns preisen den Herrn).

Die Gottesdienste sind immer ähnlich strukturiert: Singen, Bibeltext, Schweigen, persönlich formuliertes Gebet. Das zehnminütige Schweigen bei jedem Gottesdienst ist besonders beeindruckend. Manchmal hörte man über lange Zeit nicht einmal Hüsteln oder  ein Rascheln von Papier. Tausende, eng und unbequem zusammengedrängt, werden  einfach ganz still. Aus einer Masse von Menschen werden individuelle Menschen, jeder mit seinem Leben, seinen Hoffnungen und seinen Niederlagen.

Wir Erwachsenen hatten vormittags nach dem Frühstück eine gute Stunde Bibelarbeit und am Nachmittag Gespräch in einer kleinen Gruppe. Es ist immer wieder beeindruckend, wie schnell sich in Taizé einander fremde Menschen öffnen und Kontakt finden. Die Bibelarbeit für die Erwachsenen moderierte wieder der niederländische Bruder Rob.  Er versteht es meisterlich, kritische Exegese, moderne Theologie und mystische Lebensweisung zu vermitteln. Die Übersetzung war wie eine Wiederholung des ersten Pfingstfestes: Frère Rob sprach Taizé – Englisch (wie er es selbst charakterisierte) in kurzen Abschnitten, anschließend übersetzten jeweils 22 freiwillige Übersetzer gleichzeitig ihrer nationalen Gruppe. Taizé hat es geschafft, der Katechese (= Einführung, Lehre, Unterrichtung) wieder einen eigenen Ort zu geben. Die in den christlichen Kirchen oft bedeutungslos gewordene Predigt hat man in Taizé abgeschafft. In meiner Gesprächsgruppe waren wir drei Männer und fünf Frauen. Auch diesmal hatte ich die Erfahrung, urchristlicher Atmosphäre. Jeder kam aus einer ganz unterschiedlichen Situation und doch hatten wir zueinander sofort ein goßes Vertrauen.

An den Wochentagen wurden am  Schluss des täglichen Morgengebetes von den Brüdern die eucharistischen Gaben ausgeteilt. Sie kamen von der vorherigen katholischen, allerdings fakultativen Eucharistiefeier. Mit Rücksicht auf das Eucharistieverständnis mancher reformierter und katholischer Teilnehmenden gab es bei der Kommunionsausteilung immer eine Alternative, indem auch Jugendliche gesegnetes Brot anboten. Die Austeilung erfolgte nach der orthodoxen Tradition: die Hostie wurde in den Wein getaucht. Mit Selbstverständlichkeit erhoben sich vor der Kommunion alle, um die eucharistischen Gaben zu empfangen. Taizé hat es geschafft, die konfessionellen Unterschiede so zu überbrücken, dass sie zwar da sind – aber eigentlich keine trennende Bedeutung haben. Am Freitagabend war nach dem Gottesdienst die Kreuzverehrung, die für den vor zwei Jahren ermordeten  Gründer von Taizé, Frère Roger Schutz, immer ein besonderes Herzensanliegen war. Das Ikonenkreuz wird in die Gangmitte auf den Boden gelegt. Die Jugendlichen näherten sich kniend und berührten das Kreuz mit ihrer Stirn.

Der Gottesdienst am Samstag Abend wird in Taizé traditionell mit Lichtern gefeiert. Die Kerzen gehen nach einer Zeit von selbst aus. Mit der ganz einfachen Technik der verkürzten Dochte wird verhindert, dass das Wachs den Boden verschmutzt.

Am Sonntag endete die Woche mit einer katholischen Eucharistiefeier  nach dem Frühstück. Die (meistens evangelischen) Brüder teilten das eucharistische Brot aus.

Am Schluss des Abendgottesdienstes saß Roger Schutz auf seinem kleinen Holzstühlchen und die Jugendlichen kamen zu ihm, damit er sie segne.

In der Woche nach der ermordung von Roger Schutz stand das hölzerne Stühlchen verwaist an seinem Platz.

Das frische Grab von Roger Schutz auf dem kleinen Friedhof an der Dorfkirche.

Anschließend zum Abschluss der Woche, die für mich wie eine spirituelle, geistige und körperliche  Rundumerneuerung war, besuchte ich das Grab von Frère Roger Schutz in dem kleinen Kirchhof der alten Kirche.  Das schlichte Kreuz ist für sein Leben bezeichnend und hebt sich wohltuend von den sonst üblichen Gräbern von Kirchenfürsten ab.

Als ich nach dem Gottesdienst mit dem Zusammenpacken begann, hatte ich das Gefühl, für eine Woche im spirituellen Zentrum der Christenheit gelebt zu haben. Katholisch und ökumenisch hat in Taizé seinen ursprünglichen Klang bekommen, nämlich dass wir zwar alle verschieden sind, aber zusammen gehören. In Taizé sind alle Traditionen wichtig und Ausdruck der Suche nach Gott, Die unterschiedlichen spirituellen Erfahrungen der verschiedenen christlichen Kirchen sind Ausdruck der Nachfolge Jesu und der eigentliche Reichtum der Jesusbewegung bis in unsere Zeit. Deshalb war es wohl auch für alle akzeptabel, dass beim Credo der Eucharistie die „katholische Kirche“ genannt wurde. Taizé lässt die Versöhnung zwischen den christlichen Kirchen erleben. Es ist wie eine Auferstehung des ursprünglich Katholischen. Das Wort „katholisch“ hat in Taizé einen nichtkonfessionellen Klang bekommen.

Ich will abschließend einige Beobachtungen beschreiben, weil sie mir für Taizé wesentlich erscheinen:

Es gibt in Taizé weder Kollekten noch Opferstöcke. In der Verkaufsbaracke, wo die Brüder selbst gefertigte Töpferwaren und Schriftgut zum Kauf anbieten, sind große Hinweisschilder: Die Brüder nehmen für sich weder Geschenke noch Erbschaften an, sie leben ausschließlich von ihrer Arbeit.

Der Ambo für die Schriftlesung war an der Schnittstelle zwischen der eigentlichen Kirche und den Erweiterungsbaracken. Wenn sich alle, die die besseren Plätze hatten, denen auf den schlechteren zuwandten, wurde das Gleichnis Jesu von den „zuletzt Gekommenen“ handgreiflich erfahrbar.

Alles war einfach, fast primitiv, immer arm – und doch voller Charme, Schönheit und liebevoller Zuwendung und wenn es wichtig war, wie bei der akustischen Elektronik, von hervorragender Qualität.

Die Jugendlichen konnten nach dem Abendgebet bis um 23.30 Uhr feiern. Danach wurde es sehr schnell still. Viele gingen nach den Gottesdiensten noch einmal in die Kirche, setzten sich auf ein Bänkchen oder legten sich auf den Boden und immer wurde einzeln oder in Gruppen oder von allen gesungen. Zum Morgengebet waren sie alle wieder da.

Mehrmals habe ich bis nach Mitternacht neben meinem Zelt gesessen und hatte den Sternenhimmel über mir. Ich habe mich gefragt, warum hier in Taizé weder der Zölibat noch die reine Männergemeinschaft auf mich anstößig wirkten? Vielleicht liegt es daran, dass diese Männer die ehelose Lebensform echt leben. Sie haben sie für sich gewählt und wollen in der Lebensform der Männer – Gemeinschaft ihre eigenen Lebensziele verwirklichen. Man sagte mir, dass der Weggang von Brüdern aus der Gemeinschaft relativ reibungsarm verläuft. Vielleicht spielt auch das Fehlen von verbissenen Machtkämpfen verknöcherter Kirchenmänner eine Rolle oder dass die Gemeinschaft autonom ist und unabhängig von kirchlichen Bürokratien.

Es hat eine tiefe Symbolik, dass Frère Roger gerade Taizé und nicht das 10 Kilometer entfernte Cluny als Ort für seine Gemeinschaft wählte. Cluny war einmal das Zentrum der benediktinischen Reformbewegung und wurde dann durch seinen Reichtum und seine Macht so gehasst, dass nach der Französischen Revolution „kein Stein auf dem anderen blieb“.

Mit vier Professorinnen aus St. Petersburg in Cluny. Der römisch-katholische Theologe und die vier orthodoxen Professorinnen überwinden die große Spaltung der christlichen Kirche.

2003 war ich mit vier Professorinnen aus St. Petersburg in Cluny. Ich erinnere mich: nachdem wir in der Bourbonenkapelle Lieder der orthodoxen Liturgie gesungen hatten, umarmten wir uns, ein kleiner Baustein der Versöhnung zwischen Ost und West. Die Schuld der römischen Kirche am Untergang von Byzanz war auf einmal bedeutungslos.

Bedrückend wirkt der kirchliche Alltag in der Umgebung von Taizé. Die vielen romanischen Kirchen aus dem 12. Jahrhundert, für die der französische  Staat wohl die bauliche Verantwortung trägt, erinnern an die reiche christliche Vergangenheit. Hier in Burgund war einmal das spirituelle Zentrum des christlichen Europas. Aber das ist lange Vergangenheit. Wie ich las, betreut heute ein Pfarrer 16 – 25 ehemalige Pfarreien und damit auch die entsprechende Zahl von Kirchen. Aber dann erlebte ich dieses Jahr in Cluny eine große Hochzeit in der Pfarrkirche und war erstaunt über den beeindruckenden Gesang der großen Hochzeitsgesellschaft.

Noch zu seinen Lebzeiten hat Roger Schutz für seine Nachfolge gesorgt 1998 bestimmte er nach Befragung und Zustimmung aller Brüder Alois Löser zu seinem Nachfolger.

Alois Löser ist Deutscher und Katholik. Er wurde 1954 in Bayern geboren und gehört seit 1974 zu der Kommunität. Ich hatte den Eindruck, dass die  Kommunität mit ihren mehr 100 Brüdern auch nach dem Tod von Roger Schutz lebendig und identisch geblieben ist. Aus der ursprünglich evangelischen Gemeinschaft  ist mittlerweile ein Modell für die ökumenische Versöhnung der Christen geworden, das auch vom Vatikan respektiert wird. Frére Roger Schutz war überzeugt, dass die Bruderschaft eine entscheidende Bedeutung für die Zukunft des Christentums hat. Möge er Recht haben, denn es liegen über der Zukunft der christlichen Kirchen viele dunkle Wolken.

Was bewegt mich als Katholiken und noch dazu in meinem Alter von mehr als 70 Jahren, nach Taizé zu fahren? Ich fühle mich hier sehr nahe am Ursprung der Jesusbewegung.  Hier in Taizé finde ich die Kirche, die ich liebe. Aber auch das Zusammensein mit so vielen jungen Leuten ist ein großes Geschenk.

Nachdem ich mein Zelt abgebaut hatte, ging ich noch einmal auf den Friedhof zum Grab von Roger Schutz, um Abschied zu nehmen, und fuhr dann dankbar zurück nach Bendorf. Auch dies ist ein Wunder, dass ich als Deutscher völlig unbehelligt und mit tiefer Freude über die Schönheit Frankreichs nach Hause fahren durfte.

Eine Woche tiefer spiritueller Erfahrungen liegt hinter mir. Das Zusammensein mit so vielen jungen Menschen hat mir gut getan. Tschüs Taizé. Der Kommunität wünschen ich Goittes Segen. 

Kittlauss Jan 1st 2012 12:00 am Biographisches Keine Kommentare bisher Facebook Kommentare

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