Gedanken zu meinem 40jährigen Priesterjubiläum

(Erstveröffentlichung: „Lebenswege – Hoffnungswege“,hrg. Vereinigung katholischer Priester und ihrer Frauen, Berlin PRO BUSINESS 2004)

Seit meiner Priesterweihe 1961 gab es viele Wechsel: Kaplan in Jena, Diözesanjugendseelsorger in Erfurt, arbeitslos, Hilfsarbeiter im Thüringer Zoo, Versicherungsagent, Arbeiter im Papier- und Tapetengroßhandel, Evangelischer Gemeindehelfer, Ausreise,Arbeitslosigkeit, doch dann normalisierte sich alles

 

Vor vierzig Jahren wurde ich im Erfurter Mariendom zum katholischen Priester geweiht. Deshalb stehe ich in diesem Jahr vor der Frage, wie ich es mit diesem Jubiläum halten solle, obwohl sich in diesen vierzig Jahren sowohl in der Welt wie auch bei mir persönlich vieles verändert hat. Der Bischof, der mich damals geweiht hat, ist schon lange tot, der andere Bischof, der mir die „Laisierung“ ausgesprochen hat, ebenfalls. Ihre Gräber sind im Innenhof des Erfurter Domes. Der römische Papst wird nicht mehr auf dem großen Tragesessel durch die Menge getragen, sondern fährt auch aus Sicherheitsgründen in einem Hightech – Roller. Von der Berliner Mauer, die doch nach Erich Honecker noch in hundert Jahren bestehen sollte, gibt es nur noch klägliche Reste, einige davon in meinem Bücherregal. In Bendorf, wo ich seit 1976 lebe, gibt es eine orthopädische Klinik, wo das Einsetzen künstlicher Gelenke Routine ist, so wie E-Mails, die ich auf meinem PC schreibe und in alle Welt verschicke. Die erste Weltraumsonde mit Ionenantrieb, bisher nur eine Story in der Science – Fiktion – Szene, macht sich dieses Jahr auf den Weg zum Mond. Solche Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Vielleicht noch viel wichtiger ist der Wandel in Wertvorstellungen, ich denke an die Veränderungen der Beziehungen zwischen Frauen und Männern und die Entwicklung der globalen Welt. Manche sagen, es hätte noch nie eine Generation wie die unsrige gegeben, die so viele Veränderungen ihrer Lebensbedingungen erleben konnte. Die andere Seite der Medaille ist ebenso aufregend: Auch ich selbst habe mich verändert. Ich bin nicht nur älter geworden, mittlerweile im Ruhestand und habe dem Tod mehrmals ins Angesicht geschaut, sondern es hat sich auch in meinem Denken und in meinen Lebensidealen vieles verändert. So verstehe ich heute besser, wie sich innerhalb einer Generation das Christentum aus seinen jüdischen Wurzeln emanzipieren konnte und dass sich die christlichen Kirchen wie jede Institution entwickelt haben. Ich bin auf der einen Seite in vielem gelassener geworden, oft aber neugieriger, hartnäckiger und radikaler. Es gibt bei mir auch Dinge, die in mein Leben zurückgekehrt sind, nachdem sie längere Zeit überhaupt keine Rolle gespielt haben. So liebe ich das Rosenkranzgebet und genieße es, das Neue Testament in der griechischen Ursprache zu lesen. Ja, Veränderung und Kontinuität – beides gehört zu mir. Es ist mir wichtig, dies sehr deutlich zu machen, gewissermaßen als Hintergrund dieser Überlegungen. Denn die Frage, wie ich es als laisierter katholischer Priester mit meinem 40jährigen Weihejubiläum halten soll, ist keineswegs selbstverständlich und noch weniger einfach zu beantworten.

  

Zunächst hätte ich wie jeder Beamter oder Maurermeister das Recht, mein Berufsjubiläum zu feiern. Viele Formen wären hier möglich, sowohl ein großes Fest wie auch die Feier im kleinsten Kreis. Aber hier drängt sich sofort die Frage auf, ob ich nicht durch meine Entscheidung zur Heirat und die dann erfolgte „Laisierung“ alle Rechte auf ein Jubiläum verloren habe? Geht es mir nicht so wie einem entehrten Offizier, dem die Epauletten abgeschnitten wurden, und der aus der Armee ausgestoßen ist? Aber irgendwie regt sich bei mir Protest gegen dieses Denken, vielleicht auch weil wir aus der Geschichte wissen, wie relativ solche Entehrung sein kann. Gar nicht selten wurden bei Änderung der gesellschaftlichen oder kirchlichen Verhältnisse Entehrte rehabilitiert und dann hoch verehrt. Aus der langen Reihe der Zeugen seien die Jungfrau Johanna von Orleans, der schlesische Dichterpriester Joseph Wittig und der Politiker Nelson Mandela als Beispiele genannt. Nein, gegenüber einem bloßen amtlichen Federstrich, und auch nach dem päpstlichen Selbstverständnis ist die „Laisierung“ nicht mehr als ein Behördenakt, Also habe ich weiter gefragt und schaute mir zunächst einmal die Texte an, wie ich es als Methode in der biblischen Exegese gelernt habe.

 

Da ist zuerst das Laisierungsschreiben v. 18.7.1972, in dem mir der damalige Erfurter Kommissarbischof Hugo Aufderbeck (†) lapidar mitteilte: „ Am 15. Dezember 1971 haben Sie an den Heiligen Vater das Gesuch um Rückversetzung in den Laienstand gerichtet. Unter dem 19. Mai 1972 teilte die SACRA CONGREGATIO PRO FIDE (Prot. Nr. 1851/72) mit, dass Ihrem Antrag entsprochen wurde. Das genannte Rescript enthält die Laisierung und die Dispens von den Weiheverpflichtungen als unzertrennbare Einheit.“ Kurz und knapp heißt das: Rausschmiss und Beendigung der Berufskarriere. Merkwürdig ist es allerdings, dass sich der Bischof auf ein Schreiben von mir bezog, das ich so überhaupt nicht geschrieben hatte. Ich hatte nämlich nur um Heiratserlaubnis gebeten und eindeutig meine Bereitschaft zum weiteren priesterlichen Dienst erklärt, auch zu anderen Aufgaben, falls sich dies mit Rücksicht auf die Weltkirche nicht anders machen ließe. Weil sich deshalb die Entscheidung der römischen Kirchenbehörde ausdrücklich auf einen Antrag von mir bezog, den ich überhaupt nicht gestellt hatte, muss gefragt werden, ob nicht sogar eine irrtümliche Entscheidung vorlag, diese also null und nichtig war? Eigenartig ist es auch, wenn es in dem bischöflichen Schreiben heißt: „ Das genannte Rescript enthält die Laisierung und die Dispensierung von den Weiheverpflichtungen als unzertrennbare Einheit. …. Die Ausübung irgendwelcher Weihefunktionen ist von jetzt ab für Sie nicht mehr möglich, unbeschadet der Vorschrift von Canon 882 und 892, §2.“ Das heißt doch in verständlichem Deutsch: Ich bin weiterhin Priester, allerdings mit eingeschränkten Befugnissen, also nur noch, wenn ein anderer Mensch in schwerer Lebensgefahr ist, dann aber sogar als Pflicht auferlegt, und von den eingegangenen Verpflichtungen wie Ehelosigkeit, Breviergebet und Dienstgehorsam befreit. Also im Sinne des römischen Kirchenrechtes wäre gegen das Priesterjubiläum gar nichts grundsätzlich einzuwenden, vielleicht nur sollte die Feier „sine pompa et organu“  sein (ohne Pomp und Orgelspiel), also bewusst schlicht und zurückhaltend, weil ich ja gewissermaßen zu einem freigestellten Priester ohne Pensionsansprüche wurde?

Soweit so gut. Doch hilft dieses rechtliche Denken überhaupt weiter? Widerspricht das nicht meiner ureigensten Entwicklung? Könnte ich auf solcher Basis ein Jubiläum feiern? So schaute ich deshalb als nächstes in meine Weiheurkunde hinein, die übrigens sehr schön gestaltet ist, ganz im Unterschied zu dem. Laisierungsschreiben von Bischof Aufderbeck, das wie ein trivialer Behördenbrief aussieht. In der Weiheurkunde heißt es in großen Lettern, gesiegelt und unterschrieben von dem damaligen Erfurter Weihbischof Joseph Freusberg: „ Am 29. Juni im Jahre des Heils 1963 weihte ich durch die Gnade Gottes und durch die Auflegung meiner Hände zum Priester den Diakon Dieter Kittlauss“. Und dann folgt gewissermaßen als Kommentar ein uralter Text, der so wunderschön ist, dass ich ihn vollständig zitieren will:

 

 „ Der ewige Hohepriester Jesus Christus hat Dich mit unvergänglichem Siegel gezeichnet, er hat Dich ausgesondert zu makellosem Dienst und bestellt zum Verwalter heiliger Geheimnisse. + Nicht mehr Knecht bist Du sondern Freund des Herrn, erwählt von ihm, geheiligt in der Wahrheit. + In Einheit mit dem Bischof bist du dem Herrn der Kirche unlösbar verbunden. + Beharre in der Lehre der Apostel, im Gehorsam, in mannhafter Treue. + Gesalbte Hände hebst du zum Gebet empor. Du entsühnst und weihst die ganze Schöpfung zum Dienst Gottes, des alleinigen Herrn. + In jungfräulicher Vaterschaft baust du die Kirche auf, Christi leib. + In der Taufe führst du die Menschen aus der Finsternis zum Erbe der Heiligen im Licht. + In der Feier der Eucharistie bringst du dich und das heilige Volk des Herrn im Erlösungsopfer Christi zur Verherrlichung des Vaters dar und teilst das heilige Brot des Lebens aus. + Du bist von Gott zum Stellvertreter seiner Liebe, zum Richter und Arzt der Sünder bestellt. + Du darfst die Kranken segnen und sie zum Todeskampf weihen. + Sei Lehrer des Glaubens, Ältester in Würde und Zucht, + bewährt und reif in Wissen und Werk, verkünde das Evangelium der seligen Herrlichkeit im Geiste der Kraft und Liebe und Besonnenheit. + Tue alles im Einklang mit dem Bischof. + Liebe die Einheit. + Schwer und gefahrvoll ist dein Dienst. + Harre aus in der Hoffnung des ewiges Lebens, das dir Christus Jesus geben wird mit allen, die sein Wort treu verwaltet haben seit Anbeginn“.

 

Ich gestehe, dass es mir fast den Atem raubte, als ich dieses Dokument nach vielen Jahren wieder las. Und ich musste es mehrmals wieder lesen, um mir jedes Wort zu verinnerlichen. Hier ist kein Wort über Zölibat, Laisierung, Dienstverpflichtung, Rescript, kirchliche Canones, Klerus, Weihefunktionen oder Kirchenstrafen. Hier atmen Geist und Buchstabe des Neuen Testamentes und ich fühle mich beim Lesen in meinem innersten Denken und Fühlen angesprochen. Ja, das ist mein Glaube, mein Leben, der Grund meines Adsum, ganz tief verankert in meinem Herzen: das Evangelium der seligen Herrlichkeit, die Liebe zu den Kranken und Schwachen, der Auftrag wie die Apostel ein Bote dieses Jesus von Nazaret zu sein. Und ich höre in dem Text die Botschaft von dem priesterlichen Volk und dem Licht in der Finsternis, in dem ich mich mit besonderer Leidenschaft engagieren soll. Ich höre auch die Mahnung zu Selbstzucht und jungfräulicher Vaterschaft (ein wunderbares Bild, das in seinem ursprünglichen Sinn überhaupt nicht sexuell gemeint war). Und gewichtig – mahnend – tröstend fast wie ein Bachchoral das Wort: „ Unlösbar dem Herrn verbunden“. Unlösbar wie später mein zweifaches Eheband, das nur Gott durch den Tod lösen kann.

Doch wie ist das mit meiner Beziehung zum Bischof? Denn im Text heißt es auch: „In Einheit mit dem Bischof“ und „im Einklang“ mit ihm. Bin ich nicht fortgelaufen wie der verlorene Sohn und habe in der biblischen Bildsprache die breite und bequeme Straße gewählt? Klingen mir nicht noch im Ohr die oft feindseligen Worte mancher „Frommen“ vom abtrünnigen Priester und vom sündhaften Bruch des feierlichen Gelöbnisses? Nein, ich muss widersprechen. Das alles trifft weder auf meine damalige Entscheidung noch auf mein weiteres Leben zu. Mein Weg war alles andere als bequem, im Gegenteil habe ich damals mit Sicherheit und ganz bewusst den für mich schwierigeren Weg gewählt. Das Abenteuer neuer Lebensgestaltung, die mühsame neue Berufsfindung mit 35 Jahren in einer mir unfreundlich gesinnten wenn nicht sogar feindlichen Umwelt, die konkrete Verantwortung für die nächste Generation und die wiederholte Preisgabe von Heimat, Freunden und Bindungen waren keinesfalls eine breite Straße. Ich erinnere mich noch an die Gespräche mit meinem Heimatpfarrer (†) und einem Pallotinerpater (†), mit beiden war ich sehr verbunden. Sie warnten mich beide, denn ich würde alle Sicherheiten und Annehmlichkeiten meines jetzigen Lebens verlieren und mich den Mühsalen eines Verheirateten ausliefern. Nein, die Wahrheit ist: ich wählte bewusst die „enge und steile“ Straße der Wahrhaftigkeit und Lauterkeit. Und deshalb heißt die Wahrheit: Nicht ich bin fortgelaufen, sondern der Bischof hat mich infolge seiner totalen Unterwerfung unter die innerkirchliche Disziplin weggeschickt und sich selbst aus aller Verantwortung gelöst. Als ich den Wunsch äußerte, die Form meines Lebens zu ändern, um das Leben eines Zölibatären aufzugeben, um mich in der Tradition der Apostel an eine Lebensgefährtin zu binden, habe ich meine Bereitschaft zum Leben und Dienst im Gottesvolk des Neuen Bundes nicht zurückgezogen. Im Gegenteil, ich war ungebrochen hoch motiviert zum Dienst in Welt und Kirche, und bin dies – wenn ich dies in aller Bescheidenheit sagen darf – bis zu heutigen Tag. Doch bevor ich dem nachgehe, will ich nach den Wurzeln meines Adsum fragen.

 

Meine Jugendjahre habe ich in der katholischen Diasporakirche Weimar verlebt und wurde von dieser ganz stark geprägt. Ein Pfarrer, drei Kapläne, vier Pallotinerpatres, ein Dutzend Ordensschwestern und viele engagierte Christen aller Altersschichten führten uns Kinder und Jugendliche in das christliche Leben ein, wobei Gottesdienste, Frömmigkeit und Jugendarbeit untereinander und mit dem ganzen Gemeindeleben eine organische Einheit bildeten. Für junge Leute von heute mag es seltsam klingen, aber es war wirklich so, dass wir damals als Jugendliche mit dem Kirchenjahr lebten. Die großen Feste mit ihren Bräuchen und Liedern, die Gemeinschaftsmessen, wo wir Jugendliche unter uns waren, die Monatsbeichte und die Komplet am Samstag Abend, die Fronleichnamsprozession und die Wallfahrten, die Mai- und Rosenkranzandachten, die Volksmissionen durch die Redemptoristenpatres, das persönliche Gebet und die Danksagung nach der Kommunion und so vieles mehr bestimmten unseren Lebensrhythmus. Selbstverständlich, mit Einsatz und Freude, übernahmen wir frühzeitig Aufgaben und Verantwortung und erlebten in den Pfarrhäusern offene Türen. Im Gegensatz dazu hatte die sozialistisch–atheistische Gesellschaft keinen tiefen Einfluss. Es machte mir nichts aus, dass wir in der sozialistischen Oberschule nur eine knappe Handvoll aktiver Christen und davon noch weniger Katholiken waren. Das Bekenntniskreuz auf der Jacke war uns ein Zeichen unserer Berufung. Aus dieser kirchlichen Sozialisation heraus erwuchs der Wunsch, Priester zu werden. Der Zölibat spielte dabei überhaupt keine Rolle und der Satz „ ich werde nicht heiraten“ kam mir aufgrund meiner persönlichen Entwicklung sowieso völlig unproblematisch über die Lippen. Diese Motivation zum priesterlichen Dienst wuchs dann weiter in Studium und ersten Dienstjahren, denn wir waren damals eingebettet in die Bewegung des II. Vaticanums. Um mit Mario von Galli zu sprechen: Die strenge und manchmal versteinerte römisch – katholische Kirche erlebten wir wie eine Frau, die sich nicht nur eine neue Frisur zulegte und adrett kleidete, sondern vor allem jetzt ihr wahres Wesen zeigte und in ihrem Gesicht auf einmal ein liebenswürdiges Lächeln hatte, voller Verständnis für die Welt und alle Menschen. Wir waren angesteckt und begeistert von der „ecclesia semper reformanda“ (= der Kirche, die sich ständig erneuern muss), diesem wandernden Gottesvolk durch die Geschichte der Welt, und haben uns voll identifiziert. 1963 zog ich als junger Vikar nach Jena und kam in eine lebendige Diasporagemeinde, zu der viele Intellektuelle, junge Familien, Jugendliche und Kinder gehörten, die uns junge Priester – wir waren zu dritt – in jeder Hinsicht, also auch intellektuell, einforderten. Wir  jungen Priester waren zwar nur ungenügend für diese vielfältigen Aufgaben ausgebildet und vorbereitet, aber mit dem uns anerzogenen Selbstbewusstsein „sprangen wir über Mauern“ und merkten die Defizite erst mit der Zeit.

Doch es gab noch eine zweite Erfahrung, die in meinem priesterlichen Dienst von Jahr zu Jahr zunahm, sie war weniger schön und wurde zunehmend belastend. Je mehr ich in kirchliche Interna Einblick bekam, umso stärker erlebte ich die Konflikte vieler Priester, die nach außen oft verborgen blieben, aber nicht selten zu doppelbödigem Leben, Abartigkeiten oder Abhängigkeiten – oft zu Lasten von Frauen-  führten und dann zu dem gewählten Berufsideal in Widerspruch gerieten . Diese negativen Erfahrungen – und sie waren keine tragischen Einzelfälle – ließen bei mir die Überzeugung wachsen: „ So will ich nicht dauernd leben“. Mir wurde deutlich, dass der Pflichtzölibat ohne Einbindung in eine Gemeinschaft bzw. ohne homoerotische Prägung nur selten zu der eigentlich intendierten Befreiung der vorgeschriebenen Ehelosigkeit führte. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass ich zu dieser Minderheit nicht gehörte. Zu dieser sehr persönlichen Einschätzung kam die theologische Diskussion, die die traditionelle Überbewertung des Pflichtzölibates relativierte und nach einer neuen Bewertung von Liebe, Sexualität und Ehe verlangte. In dieser hinterfragenden Wertediskussion veränderte sich innerhalb meiner Kirche das kollektive Gedächtnis. Es wurde von den verheirateten Aposteln der Urkirche und den verheirateten Priestern der Ostkirchen gesprochen. Durch die Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln wurde der Pflichtzölibat als ein nichtbiblisches Lebensmodell erkannt, das auch durch die freiwillige Ehelosigkeit eines Apostels Paulus nicht zu legitimieren war. So war es kein Wunder, dass die Freiheitsbewegung des II. Vaticanums auch die katholische Priesterschaft erfasste. Mit diesen Veränderungen in mir und um mich herum war es auch für mich nur ein kleiner Schritt zu einer konkreten Veränderung meiner Lebensform. Anlass war die Liebe meiner verstorbenen Frau Rosemarie, durch die mir ein neuer Zugang zum Leben geschenkt wurde. Da irgendwelche „Alternativmodelle“ für uns grundsätzlich nicht infrage kamen, legte ich meinem Bischof die Karten auf den Tisch, um mit ihm zu überlegen, wie meine Entscheidung nach außen hin und in unsere Kirche hinein möglichst konfliktarm gestaltet werden konnte. Doch das war eine Illusion. Innerhalb kurzer Zeit erfolgte die institutionelle „Abwicklung meines Falles“, für mich ein ganz tiefer Schock. Ich erlebte nun am eigenen Leib die „Ketzerverfolgung“, die ich auf der Oberschule immer leidenschaftlich bestritten hatte. Da damals von der katholischen Kirche in der DDR für „Priester ohne Amt“ jegliche berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit im kirchlichen oder kirchennahen Raum grundsätzlich abgelehnt wurde, stand für mich neben dem Broterwerb auch die Frage nach meiner menschlichen Identität. Aber ich machte auch die Erfahrung, dass jede Krise neue Chancen bringt. Es gab viele neue Kontakte, vor allem die Geborgenheit einer glücklichen Partnerschaft, das Geschenk eines Kindes, neue Freunde und die aufgezwungenen Herausforderungen vieler Lernprozesse. Während ich in meiner Kirche zunehmend in eine nicht gewollte Außenseiterposition geriet und mir die erfahrene Feindschaft sehr schwer fiel zu ertragen, bekam ich in der evangelischen Kirche einen befreienden Lebensraum. Durch meine Tätigkeit als Diözesanjugendseelsorger waren vielfältige Kontakte und Freundschaften zu evangelischen Pfarrern, Diakonen und Presbytern / Presbyterinnen gewachsen. Dies erwies sich jetzt als Segen. Obwohl ich mich in der Öffentlichkeit als katholischer Theologe bekannte und auch das Angebot des evangelischen Pfarrdienstes nicht annahm, (da wir und hier ziehe ich Rosemarie bewusst ein, den Schritt einer Konversion nicht gehen wollten und uns zu stark in der katholischen Tradition beheimatet fühlten), öffneten sich viele Türen für ehrenamtliches Engagement sowohl in der evangelischen Gemeindearbeit in Erfurt wie in überpfarrlichen Aufgaben der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen, die für Ökumene offener war als die Lutherische Landeskirche Thüringens.

 

Was ist aus meinem priesterlichen Adsum geworden? Diese Frage steht hinter der Frage nach dem 40jährigen Jubiläum. Wenn ich zurückschaue, sehe ich bei mir eine kontinuierliche Spur von Engagement, Verantwortung, Verkündigung des Evangeliums, liturgischen Diensten, Liebe zu den kleinen Leuten, theologischer Weiterbildung und Streben nach Glaubensidentität. Besonders die junge Generation wuchs mir immer ans Herz und ich empfinde es als Reichtum in meinem Leben, so vielen jungen Menschen den Weg gewiesen zu haben. In den drei Jahren als Kaplan in Jena, der Stelle meiner ersten Berufsliebe, hatte ich bereits die Chance, viele junge Leute auf ihrem Lebensweg zu begleiten. In Erfurt wurden mir dann über fünf Jahre geschenkt, in denen ich volle Berufserfüllung fand. Die Verantwortung für zwei Teams und zwei Jugendhäuser, der Austausch im Rahmen der katholischen Jugendseelsorge der DDR und der konziliare Lernprozess, der immer auch Abbau des klerikalen Denkens bedeutete, die Auseinandersetzung mit der damals aufkommenden Gruppendynamik, die liturgischen Experimente und die vielen ökumenischen, innerdeutschen und europäischen Kontakte gaben berufliche Tiefe und Breite. Natürlich wurde es dann gerade deshalb schwierig und kompliziert, als ich meinen Broterwerb von einem Tag auf den anderen außerhalb von katholischer Kirche suchen musste. Noch heute schaue ich staunend zurück, wie selbstverständlich ich mich damals auf die Suche in die mir unbekannte, sozialistische Berufswelt machte, zumal meine kirchlichen Qualifikationen und Berufserfahrungen nicht nur wertlos sondern auch  hinderlich waren. Die Palette der vergeblichen Berufssuche war breit, sie lag zwischen dem Erfurter Schlachthof und der Wartburgstiftung. Doch erst musste die Erfahrung von acht Monaten Arbeitslosigkeit (die es eigentlich in der DDR gar nicht geben durfte) durchgestanden werden. Der erste geglückte Job beim Thüringer Zoopark war dann ziemlich demütigend, denn ich hatte lediglich die Wahl zwischen der tagtäglichen Indoktrinanz durch drei Frauen, denen es offensichtlich Spaß machte, einen Priester wie ihren Haussklaven zu halten, und dem demütigenden Verkauf von Eintrittskarten in einer schmierigen Holzhütte am Zooeingang. Rückblickend ist es jedoch erstaunlich, wie ich mich gerade in diesem Jahr in meinen Bemühungen um Kontemplation Fortschritte machte und meine theologischen Studien vertiefte. Später bei der Staatlichen Versicherung der DDR ging es mir besser, aber die verlangte rücksichtslose Jagd nach Vertragsabschlüssen ließ sich mit meiner Sicht von Versicherungsberatung überhaupt nicht vereinbaren, vielleicht war ich auch einfach nicht geeignet für diese Aufgabe. So war es kein Wunder, dass ich schließlich beim Staatlichen Handelskontor landete, um Tapeten zu verladen und Bleistifte zu zählen.

Da gab es noch ein Zwischenspiel. Die Verwaltungsleiterin beim Thüringer Zoopark, eine tief überzeugte SED – Parteifrau, sah es als ihre Aufgabe an, mich aus meinen Bindungen an Kirche und Religion zu lösen und umzuerziehen. So delegierte sie mich zu einem Fernstudium bei der Finanzschule Gotha. Zunächst sah ich darin eine Chance, bis ich merkte, dass es hier im wesentlichen um Marxismus – Leninismus und Erziehung zur Parteilichkeit ging. Im Gegensatz zu meiner Oberschulzeit wurde allerdings Bekenntnis verlangt und unserem Polit-Dozenten machte es offensichtlich Spaß, dem ehemaligen Priester antikirchliche und religionsphilosophische Themen zu stellen, natürlich ganz aus der Sicht der marxistisch – atheistischen Ideologie. Sein „Beweisen sie, dass ….“ klingt mir noch heute im Ohr. Damals begriff ich, wie schwer es für viele Christen war, in dieser Welt des realexistierenden Sozialismus nach ihrem Gewissen zu leben. Aber es wiederholte sich auch die Erfahrung meiner Oberschulzeit, dass es auch im Unterdrückungssystem Freiheitsräume gibt. Mein eigentliches Leben spielte sich in unserer für viele Menschen offenen Wohnung und innerhalb der evangelischen Kirche ab. Ich lernte viele ganz unterschiedlichen Menschen kennen und meine  Vorurteile gegenüber anderen Traditionen und Lebenseinstellungen abzubauen. Ich konnte Werte entdecken, die ich in meiner eigenen katholischen Kirche oft schmerzlich vermisst hatte. Ich erinnere mich, wie es mich überaus beeindruckte, als mir nach einer Abendveranstaltung in einer evangelischen Gemeinde eine ältere evangelische Frau sagte: „Sie sind ein echter Jünger Martin Luthers“. Und als ich zum ersten Mal am evangelischen Abendmahl teilnahm, war es wie eine Befreiung.

Allerdings – will ich ehrlich zugeben – war es keineswegs einfach, in der sozialistischen Gesellschaft der DDR als verheirateter katholischer Priester zu überleben. Für die staatlichen Funktionäre war ich Mann der Kirche, ein Klassenfeind der „dritten Kolonne“, für die institutionellen Vertreter meiner Kirche wurde ich dagegen mit der Etikette eines abtrünnigen Kirchenfeindes belegt. Aber auch dies hat sich dann zum Guten gewendet. Durch den Drang der DDR – Funktionäre im Rahmen der Helsinki – Verhandlungen internationaler Anerkennung zu bekommen, vielleicht auch aufgrund des Überdrusses gegenüber meiner Person bei Staat und Kirche, sicher aber auch durch Unterstützung vieler Menschen öffnete sich für mich und meine Familie die Mauer für mein weiteres Leben im westlichen Teil Deutschlands. Nach fünf Monaten Angst vor den Häschern des DDR – Staates verließen wir am 2. Oktober 1975 hinter Eisenach das Territorium der DDR. Unser Sohn war damals 2 Jahre alt. Wir haben kein Alleluja gesungen, es war keine Hurrafahrt, eher eine Fahrt ins Ungewisse ohne Rückfahrkarte. Ich musste meine kranken Eltern und meine Geschwister, Rosemarie ihre Mutter zurücklassen. Wir gaben unsere Heimat auf, unsere vielen Freunde und Freundinnen, unsere Wurzeln, das Land, in dem wir Christen uns als Sauerteig für eine bessere Welt fühlten. Und der „goldene Westen“ empfing uns keineswegs sehr freundlich. Ein Freund, damals Studentenpfarrer in Essen, hatte uns – was angesichts unserer ungeklärten finanziellen Verhältnisse sehr schwierig war – eine abgewohnte Wohnung in Essen besorgen können, die preiswert war, da in ihr vorher eine Prostituierte gewohnt hatte. Die katholische Kirche war nicht bereit, meine Erfurter Zeugnisse zu legitimieren (das Erfurter Philosophisch – theologische Studium ist erst nach der Wende staatlich anerkannt worden, so dass ich nach dreißig Jahren mein Diplom bekommen konnte). Viel schlimmer war das Odium des Spions, des Kirchenfeindes und auch eines gefährlichen Versagers, das mir aus der DDR nachgeschickt worden war. Dazu kam die Isolation. Das alles hieß auch wieder Arbeitslosigkeit und monatelange Perspektivlosigkeit. Doch dann lichtete sich das Dunkel. Auf einmal waren viele Menschen da, die sich für uns einsetzten. Ab Juni 1976 erhielt ich im Bendorfer Hedwig – Dransfeld – Haus (HDH), einem freien Träger, eine Anstellung. Es waren die mutigen Bendorfer Frauen, die sich lieber auf ihr eigenes Urteil verließen und auch Widerstände nicht scheuten. Ich erhielt optimale Aufgaben, schließlich sogar mit Billigung des Trierer Bischofs über sechzehn Jahre lang die Leitungsverantwortung, und dies war selbst für den nur kirchennahen Raum ein kleines Wunder. Das HDH kam aus der Tradition der katholischen Frauenbewegung und hatte als Aufgabenziel den Slogan „Bildung, Begegnung und Erholung“, wichtiger war der Leitsatz „ Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, ein Satz des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Es war eine wunderbare Zeit. Ich verlor endgültig die mir anerzogene konfessionelle Enge und wurde durch und durch ökumenisch geformt. Ich lernte den Dialog mit dem Judentum und dem Islam. Auch wenn ich mich aus kirchenpolitischen Gründen aus dem „ Dienst am Altar“ heraus hielt, stand ich doch auf einmal wieder mitten in der Gottesdienstgestaltung mit unterschiedlichen Gruppen.  Zu meiner großen Verblüffung erklärte mir der damalige Trierer Dompropst, dass ich Rektor der Kapelle sei, also dafür verantwortlich, auch wenn ich dies nie schriftlich testiert bekam. Ja, es war wirklich so: ich konnte alle meine Fähigkeiten und Ideale einbringen und Kirche mitgestalten, wie ich es mir immer erträumt hatte. Nicht vergessen werde ich den Trierer Bischof Stein, der mir damals eine neue Chance gab. Als er mir bei einem Empfang die Hand gab und sagte: „ Jetzt sind Sie bei mir, fangen Sie neu an“, war dies wie eine Wiederholung meiner Priesterweihe. Ich weiß, dass dieser „Frühling“ in meiner Kirche bereits wieder vorbei ist. Machtdenken und Restauration alter Strukturen setzen sich jeden Tag mehr durch. „Winter in Rom“ könnte man in Anlehnung an Reinhold Schneider diesen Wandel beschreiben.

Heute bin ich im Ruhestand und die Wunden eines sehr belastenden Berufsausstieges sind vernarbt. Mir geht es sehr gut. Eigenartig ist es schon, dass ich wieder in die ursprüngliche seelsorgliche Rolle zurückgeschlüpft bin, die ich über viele Jahre ganz bewusst nicht wahrgenommen hatte, wenn ich im Pflegeheim – und dies nun schon seit sechs Jahren – die Hochbetagten auf ihren Tod vorbereite und ihnen das eucharistische Brot austeile.

Kommen wir zurück zu der Frage nach meiner priesterlichen Identität und dem Jubiläum. Ich möchte eine mathematische Formel der Mengenlehre gebrauchen: Immer war es mir wichtig, Schnittstelle zu sein zwischen dem Jesus von Nazareth und unserer heutigen Welt. Sicherlich war ich innerlich nie ein Kleriker, deshalb würde ich heute lieber von meiner Entklerikalisierung als von „Laisierung“ sprechen.

Angesichts meines 40jährigen Weihjubiläums darf ich in mir Gefühle der Dankbarkeit und der Freude aufkommen lassen. War mein Lebensweg auch äußerlich ein Zick – Zack, so war er doch in seiner innersten Richtung gradlinig und immer ein spirituell getragener Prozess. Dies ist die innere Mitte meines Jubiläums. Mit den Worten des 116. Psalms kann ich deshalb beten:

 

„ Ja, du hast mein Leben dem Tod entrissen, meine Tränen getrocknet, meinen Fuß bewahrt vor dem Gleiten. Ich gehe meinen Weg vor dem Herrn im Land der Lebenden“.

 Meine Freunde wissen von dem großen Glück, das mir nach dem Tod von Rosemarie 1999 mit Anne Egbert eine neue Lebensgefährtin geschenkt wurde. Es ist geradezu eine Wiederholung der Paradiesesgeschichte, als ob Gott weiß, dass er mich nicht allein lassen darf. Deshalb kann ich auch Menschen um mich herum an meiner dankbaren Freude teilnehmen lassen. Die Formen, die sich ergeben, sind unwesentlich. Ich bin ja in der glücklichen Lage, dass ich völlig unabhängig bin. Ich kann schweigen und singen, fasten und feiern, beten und miteinander reden, alles ist möglich. Nur echt muss es sein. So werde ich mir durch eine Wallfahrt nach Taizé einen lang gehegten Traum erfüllen, denn Taizé ist mir schon lange wie eine Neugeburt des Katholischen. Ich werde in kleinem Kreis mit Menschen die mir nahe stehen mein Jubiläum feiern. Und meine Hochbetagten werden sich freuen, wenn ich Ihnen davon erzähle.

Ich will schließen mit einem jüdischen Gebet aus dem Lukasevangelium:

 „Nun entlässt Du Deinen Knecht in Frieden,

denn

 meine Augen haben geschaut Dein Heil,

das Du bereitet hast

 vor aller Völker Angesicht“.

Bendorf, 31. März 2003

 

 

 

 

 

 

(Dieser Beitrag wurde zum 20 jährigen Jubiläum der Vereinigung katholischer Priester und ihrer Frauen – VkPF – 2004 in dem Heft „Lebenswege – Hoffnungwege“ in seinem Textgehalt veröffentlicht)

Kittlauss Jan 31st 2004 08:42 pm Biographisches Keine Kommentare bisher Facebook Kommentare

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