Frau Weisheit spricht …
Was hast du eigentlich aus deinem Leben gelernt?, fragte mich Frau Weisheit und beugte dann ihren Oberkörper abwartend zurück. Mir stockte der Atem. Was sollte ich auf eine so tief in die Mitte meines Lebens gestellte Frage antworten? Ich musste einen Umweg gehen, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, also erst über meine Wertskala reden. So holte ich tief Luft und begann langsam. Weil mir das Leben geschenkt wurde, muss ich für andere Menschen im Rahmen meiner Möglichkeiten Verantwortung übernehmen. Die christliche Ethik nennt das Nächstenliebe. Und wie hältst du es mit deinen Feinden, fragte Frau Weisheit und schaute mich gespannt an. Was meine Feinde betrifft, sagte ich, also Menschen, die mir durch Dummheit oder Bosheit Schaden zugefügt haben, deren Taten muss ich nicht vergessen. Die Narben auf meiner Seele erinnern mich daran, jeden Tag aufs Neue. Doch ich weiß und es gehört zu meinem Leben als Jünger Christi, dass ich jeder Zeit bereit sein muss, die ausgestreckte Hand meines Feindes zu ergreifen. Wenn er kommt und mich um Verzeihung bittet, dann muss ich ihm einen Schritt entgegen gehen. Und wenn er in eine Grube fällt, also in Lebensgefahr ist oder in eine lebensbedrohende Krise kommt, dann muss ich ihm die Hand ausstrecken. Ich muss ihm helfen, so gut wie ich kann. Mir stockt der Atem. Würde ich das wirklich tun? Ich spürte, wie Frau Weisheit mich fragend anschaute. Und wie ist es mit deinen Gedanken, deinen Gefühlen? Musst du nicht auch vergessen? Nein, sagte ich, und nochmals nein, vergessen kann ich das nicht, und ich sah eine ganze Reihe von Menschen an meinem Auge vorbeiziehen, die mein Leben zerstören wollten. Mir geht es wie den Opfern der Shoa, stieß ich völlig kurzatmig heraus. Verzicht auf Rache ja, aber Vergessen nie. Dann wirst du viele Leichen auf deinem Weg in die Ewigkeit mitnehmen, sagte leise Frau Weisheit und schaute mir ganz tief in die Augen. Willst Du das? Willst du Ihr Weinen und Stöhnen mitnehmen zu Gott? Jetzt musste ich mich wehren. Nein, abermals nein. Ich werde niemanden töten! Ich werde niemandem Böses wünschen. Ja, Vater vergib Ihnen, denn sie wussten nicht was sie tun, das will ich beten und mit der ganzen Kraft meines Herzens. Aber vergessen? Nein. Was war, das war. In alle Ewigkeit. Da wedelte Frau Weisheit mit ihrem Finger. Du sollst nicht vergessen, das geht vielleicht gar nicht. Nein. Aber Du sollst ihm Gutes wünschen. Wünsche deinem Feind SHALOM. Du. Geh deinen Weg. Ich segne Dich. Da spürte ich: Das wars. Dem Feind einen guten Weg wünschen. Auf einmal verstand ich, dass mein eigener Weg unauflöslich mit dem Weg des anderen zusammenhängt. Nur wenn es ihm gelingt, werde ich es auch schaffen – diesen Sprung in die Ewigkeit. Zu Gott hin.
Als mir das durch den Kopf ging, verlor Frau Weisheit ihre Gestalt. Ich wusste: sie geht woanders hin, zu jemandem der so ist wie ich eben noch war. Innerlich begann ich zu beten und spürte den Frieden Gottes.