Rosemarie war meine wunderbare Frau

1998 wurde uns noch einmal ein schönes Jahr geschenkt. Wir machten wieder Urlaub im Hotel Irma in Meran. Es ging uns gut. Doch wir täuschten uns. Das Unheil war schon unterwegs.

Dankbarer Rückblick auf Rosemarie Kittlauß.Es begann 1998 bei Rosemarie mit Beschwerden im Verdauungsbereich. Der Weg durch die ärztliche Diagnostik dauerte 8 Wochen, bis es feststand: T4 / N2 / M0. Zwischendurch war Weihnachten. Die Ärzte: Die Medizin kann heute schon sehr viel. Ich kannte diese Sprache. Dann Operation und Bestrahlungen. Ich gewann die ersten Erfahrungen als Krankenpfleger. Aber es war für mich kein Problem, den Genital- und Analbereich mit Babyöl zu reinigen. Die Aussagen des Radiologen waren sehr wage bezüglich der nun beginnenden Chemotherapie. Erstaunlicherweise hat Rosemarie wenige Beschwerden. Vor der letzten Chemo, es war am 5. Juni 1999, am Tag nach Rosemaries Geburtstag, verändert sich alles innerhalb weniger Stunden. Die Aszitis lässt den Bauch aufblähen. Starke Schmerzen. Notarzt. Einweisung in den Kemperhof. Ich erlebe zum ersten Mal eine Punktion des Bauchbereiches. Zwei große Kannen Flüssigkeit wurden abgeleitet. Wieder die ganze Diagnostik der Inneren Medizin. Als Rosemarie auf Morphin umgestellt wird, dringe ich auf Klärung. Der Chefarzt: Heilung eines T4 / N2 ist in der Literatur nicht nachweisbar. Nehmen Sie Ihre Frau nach Hause. Wir werden Ihnen helfen. Wenn es nicht geht, werde ich für Ihre Frau ein Bett freimachen. Ein wunderbarer Arzt. Ich  bereite Rosemarie behutsam auf ihren Tod vor. Sie möchte, dass ich ein Grab kaufe. Da gibt es Schwierigkeiten. Die Frau auf dem Bauamt (das für den Friedhof zuständig ist) ist erstaunt. So einfach geht es nicht. Sie können doch nicht einfach ein Grab kaufen. Da erinnere ich mich an meine Jahre als Versicherungsinspektor. Hartnäckig bleiben. Es gibt immer einen Weg. Welche Umwege gibt es. Dann haben wir die Lösung. Um die Urne von Tante Maria umzubetten in ein Familiengrab, darf ich ein solches kaufen. 600 DM wird es kosten. Ich kaufe das Grab. Den ganzen Tag bin ich im Krankenhaus. Nur vormittags für zwei Stunden kommen zwei Freundinnen, Frau Rebischke und Frau Lenk, da kann ich Besorgungen machen. Wir feiern zweimal Eucharistie. Dann empfiehlt mir der Chefarzt, Rosmarie nach Hause zu nehmen. Ihre Lebenserwartung sei sehr begrenzt und es wäre für sie leichter, zu Hause zu sterben. Es geschieht so. Am 14. Juli wird das Pflegebett angeliefert, wir stellen es im Wohnzimmer auf. Rosemarie wird am nächsten Tag durch den Rettungswagen nach Hause gebracht. Der Transport hat sie sehr angestrengt. Die Sozialstation erweist sich als große Hilfe, sonst würde ich es wohl nicht schaffen.

Geschieht ein Wunder? Rosemarie erholt sich erstaunlich. Auf ihren Wunsch erhält sie Mistelpräparate und möchte in ein Schweizer Sanatorium. Wir haben viel Besuch, feiern mehrmals Eucharistie, es ist immer etwas los. Rosemarie telefoniert viel – wie in gesunden Zeiten.

Anfang August muss ich in der Uni –Klinik in Bonn operiert werden. Zwei Freundinnen von Rosemarie vertreten mich zu Hause. Nach einer guten Woche bin ich mit einer großen Wunde am Hintern wieder zu Hause. Rosemarie hat sich weiter erholt. Sie nimmt an einer Taufe teil, die sie vermittelt hat: in der Kirche, im Hotel. Es ist der 21. August. Aber die negativen Anzeichen mehren sich. An einzelnen Körperteilen verliert sie an Gewicht und die Schmerzanfälle nehmen deutlich zu. Ich weiß, dass die Erholung nur ein letztes Aufbäumen des Körpers ist. Am 8. September berate ich mich mit dem Hausarzt, da er die Schmerzen nicht in den Griff bekommt und wir entscheiden für das Bendorfer Krankenhaus. Rosemarie ist Privatpatientin, so ist das Zimmer groß und sonnig. Mit Blumen, Puppen, Plakate und  Nippes mache ich ein Wohnzimmer daraus. Viele kommen zu Besuch, denn es hat sich herumgesprochen, dass Rosemarie sterben wird. In der letzten Septemberwoche wird die Ernährung eingestellt. Ich gehe zum Drucker und bespreche mit ihm die Todesanzeigen. Ich will sie farbig. Ich bespreche mit dem Bestatter, für den ich mich entschieden habe, die Beerdigung, und bereite den Gottesdienst vor. Es soll alles so geschehen, wie ich es will. Ich bestehe darauf. Am Samstag sagt Rosemarie abends zu mir: „ Ich sterbe noch nicht und kann nachts schlafen; du kannst nach Hause fahren“. Am Montag bin ich schon sehr früh im Krankenhaus. Rosemarie ist wach. Sie sagt zur mir: „ Komm setz dich zu mir. Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Ich möchte noch einmal alles mit dir besprechen“. Ihre erste Frage: „Hast du das Grab gekauft?“. Wir sprechen etwa zwei Stunden miteinander: über die Beerdigung und über mein Leben. Rosemarie macht sich Sorgen um mich: „ Du darfst nicht allein bleiben“, sagt sie und streichelt mir die Hand, „aber sei vorsichtig“. Dann sagt sie lächelnd: „ ich werde vom Himmel auf dich aufpassen, das verspreche ich dir“. Ich muss weinen; sie wischt mir die Tränen aus den Augen. Kurz vor 10 Uhr sagt sie: „ Ich bin jetzt müde und will schlafen“. Sie schläft ein und gleitet später nahtlos in das Koma. Ich bleibe jetzt auch nachts im Krankenhaus. Ich schreibe die Sterbegebete, Adressen, Briefe, den Text für die Anzeigen. Zwischendurch reinige ich den Mund und befeuchte ihn. Das schwarze „Miserere“ ist auch für mich ungewohnt, ebenfalls das Absaugen. Am 5. 10, an meinem Geburtstag beginnt mittags der Todeskampf. Mehrere Stunden richtet sich Rosemarie ständig auf, schreit, röchelt. Da das Absaugen nichts bringt, spritzt die Ärztin auf meine Bitte hin verstärkte Schmerzmittel.  Jetzt wird Rosemarie ruhiger. Ich singe ständig Lieder und spreche ständig die Sterbegebete.

Rosemarie,

Geh Deinen Weg,

auf den dich Gott gerufen hat.

Geh den Weg.

Tu es.

Wage es.

Hab keine Angst.

Nimm mit deinen Glauben,

Dein Vertrauen,

Deine Liebe.

Nimm mit

alles Gute und Schöne,

dass du In deinem Leben erfahren hast

und anderen Menschen vermitteln konntest

Geh über die schmale Brücke.

Geh durch das dunkle Tor.

Geh in das Ungewisse.

Vergiss nicht:

Du wirst getragen von der Hand Gottes.

Seine heiligen Engel mögen dich begleiten,

dich führen und beschützen.

Ja, zum Paradiese mögen Engel dich begleiten,

die heiligen Märtyrer dich begrüßen

und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem.

Die Chöre der Engel mögen dich empfangen

Und durch Christus, der für dich gestorben,

soll ewiges Leben dich erfreu‘n.

Der allmächtige Gott erbarme dich deiner,

er lasse dir alle deine Schuld nach

und führe dich zum ewigen Leben.

Rosemarie, geh deinen Weg,

lass dich fallen in die Hand Gottes,

nimm mit

deinen Glauben,

dein Vertrauen,

deine Liebe;

alles Schöne und Gute, das dir geschenkt wurde

und das du selbst anderen Menschen schenken konntest,

Geh Deinen Weg.

Wir geben dich frei,

auch wenn es uns schwer fällt.

Der Herr lasse sein Antlitz über dir leuchten.

Du aber bist in unserer Mitte, Herr,

und dein heiliger Name ist angerufen über uns,

verlass uns nicht, Herr, unser Gott.

 

Ich spüre, dass ich Rosemarie gehen lassen muss. Ich sage ganz laut: In Deine Hände, o Gott, empfehle ich ihren Geist! Immer wieder. Nach 2 Uhr in der Nacht wird sie ruhiger. Ich sage zu meiner Schwiegermutter, die geblieben ist: „ Jetzt wird Rosemarie sterben“. Ich lege Rosemarie einen Zweig auf die Brust und mache ein letztes Foto. Gegen 3 Uhr 30 stirbt sie friedlich. Ich sage: „ Jetzt ist sie von uns gegangen“. Ich segne sie und rufe die Nachtschwester. Dann bin ich mit Omi nach Hause gefahren. Mein Kind habe ich noch angerufen. Ich spüre seinen Schmerz und umarme ihn. Dann gehen wir in s Krankenhaus. Rosemarie ist in einem anderen Raum aufgebahrt. Einige Freunde sind da. Rosemarie wirkt ganz fremd. Wir spüren: sie ist nicht mehr da. Die Beerdigung ist eine Woche später, damit ich Zeit habe alles zu organisieren. Mit mit meinem Kind suche ich einen Sarg aus. Am Abend vor der Beerdigung gehe ich auf den Friedhof und halte am offenen Sarg eine Stunde Wache. Rosemarie ist im Gesicht wunderschön. Ich mache ein letztes Foto. Dann berühre ich sie zum letzten Mal. Als letzte Erinnerung habe ich mir ihm Krankenhaus ein Büschel ausgekämmter Haare mitgenommen. Dies ist mein Geheimnis. Der nächste Tag ist ein sonniger Herbsttag mit azurblauem Himmel. Die Kirche ist berstend voll. Wir feiern eine ökumenische Eucharistiefeier mit Pater Eisenkopf und Pastor Eisel. Viele Freunde sind gekommen, auch aus dem Ausland. Eine befreundete Ärztin hatte mir Medikamente verschrieben, so bin ich ruhig und gefasst. Dann ziehen wir mit dem Sarg zum Friedhof. Mit Nina Hemmerle trete ich vor den vor der Kapelle aufgebahrten Sarg. Ich möchte ein Foto. Dann beginnt die Trauerfeier. Vor dem aufgebahrten Sarg spreche ich nochmals die Sterbegebete und kann dies mit klarer Stimme tun. Ich weiß, dass ich nun allein weiter leben muss. Anschließend Totenschmaus im Pfarrsaal: laut, lustig, kommunikativ. So als ob Rosemarie noch lebte und dies arrangiert hätte. Abends sind wir in unserer – jetzt meiner – Wohnung mit Geschwistern und Freunden. Es geht auch jetztlaut her. Wir erzählen von Rosemarie: wie sie war, wie wir sie liebten.

 

Einen Monat später muss ich noch einmal operiert werden. Ärzte und Schwestern sind ungemein nett zu mir. Die Operation geht gut. Aber mir kriecht die Angst bis zum Hals. Ich habe Suizidgedanken. Da finde ich den Schlüssel zum Weiterleben, den Text einer Frau:

 

Lass dich fallen in

deine Trauer

und schäme dich nicht

deiner Tränen.

Weine um vergangenes Glück

Aber öffne dein Herz

für all die Liebe,

die dir gegeben wird.

(Annette Könnecke)

 

Ja, das ist der Schlüssel. Auch für mich ist es wie eine neue Geburt. Der Zauber des Anfangs ist wie ein Geschenk. In dem kommenden Jahr brauche ich viel Zeit und viel Kraft um Abschied zu nehmen und neuen Boden unter die Füße zu bekommen. Ich bete viel – auch wieder den Rosenkranz. Mein Kind ermahnte mich: Trink nicht so viel Alkohol. Und dann geschieht das Wunder. Eine neue Lebensgefährtin steht vor meiner Tür. Unfassbar. Wie heißt es im Sprichwort: Wem Gott die Tür zuschlägt, dem öffnet er ein Fenster. Doch dies ist eine ganz neue Geschichte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kittlauss Jul 17th 2000 11:41 am Biographisches Keine Kommentare bisher Facebook Kommentare

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