Auf den Spuren der Enkrateia (> sexuelle Enthaltsamkeit) in der frühen Kirche
1. Allgemeiner Kontext:
In der Institution Katholische Kirche sind die Schlüsselstellungen mit unverheirateten und kinderlosen Männern besetzt, die zudem zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit verpflichtet sind. Auch nach der internen Wertskala ist die geschlechtliche Enthaltsamkeit das entscheidende ethische Kennzeichen für heiligmäßiges Leben[1]. Deshalb müsste eigentlich die Auseinandersetzung mit diesem Lebensstil ein wichtiges Thema sein. Dem ist aber nicht so.[2] Wichtigstes kirchliches Thema ist das Sexualleben der Laien.[3] Angesichts dieser Anomalie habe ich schon 2005 eine Studie „Auf den Spuren der Enkrateia“ veröffentlicht, die die Enthaltsamkeit zum Thema nahm. Diese Studie lege ich hier – kritisch durchgesehen und aktualisiert – erneut vor, da die Aktualität dringender ist als je zuvor.
Durch neuere Schriftenfunde ist das Interesse für die frühchristliche Literatur allgemein gewachsen. Besonders die feministische Forschung hat die Vielfalt der frühen Kirche ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Auch bisher schon bekannte Traditionen werden deutlicher untersucht. Dazu gehört die Verehrung der frühchristlichen Thekla.[4] Mit der Thekla-Akte (2.Jahrhundert) und dem Reisebericht der gallischen Nonne Egeria (ca.400) sind uns zwei Dokumente über diese frühchristliche Heilige erhalten. Auf ihrer Pilgerreise ins Heilige Land besuchte Egeria auch das große Theklaheiligtum in Seleukia und las hier die Akte (> Vita) der Heiligen.. Die Thekla-Akte ist durch die aktuelle theologische Forschung neu in die Aufmerksamkeit gekommen. Die katholische Theologin Anne Jensen, Professorin für Ökumenische Theologie und Patrologie in Graz, hat 1999 eine Studie über die Theklageschichte veröffentlicht[5]. Im Sommersemester 2002 hat der katholische Neutestamentler Martin Ebner ein Oberseminar zum Thema „Aus Liebe zu Paulus? Die Akte Thekla neu aufgerollt“ durchgeführt und die Ergebnisse 2005 publiziert.[6] 2009 hat Renate Eibler für die Wiener Piaristengemeinde eine Webseite über Thekla gestaltet.[7]
In dieser Studie hier ist die Thekla-Akte deshalb von besonderem Interesse, weil durch sie die Bedeutung der Enkrateia (geschlechtliche Enthaltsamkeit) für die frühe Kirche sehr anschaulich deutlich wird.
2. Die Einfügung der Thekla-Akte in die Paulus-Akte:
Die Datierung der Thekla-Akte ist für Ende des 2. Jahrhunderts gesichert, denn Tertullian († 220) gebrauchte sie in seinem Traktat „De Baptismo“ als Argument gegen das öffentliche Wirken von Frauen in der Kirche. Auch (Origines († 253), der große alexandrinische Theologe, hat sie bereits gekannt. Ursprünglich war die Thekla-Akte eine eigene Sammlung, wurde aber später als 3. Kapitel in die Paulusakte eingefügt, um die apostolische Wirkvollmacht der Thekla (und damit der Frauen allgemein) zu verteidigen.[8]
Die Paulusakte (πραξεις Παυλου), ist einer der fünf so genannten Apostelromane. In romanhafter Form wird das Wirken des Apostels Paulus auf seiner Missionsreise von Damaskus bis Rom erzählt. Die Paulusakte ist gewissermaßen eine Replique der Lukanischen Apostelgeschichte.
Die (uns durch die Einfügung erhaltene) Thekla-Akte gliedert sich in zwei Hauptteile, den Ikonium – Zyklus (ActThecl. 1-25) und den Antiochia – Zyklus (ActThecl.36-39), sowie einen abschließenden Erzählrahmen (ActThecl. 40-43).
Der „Ikonium-Zyklus“ (ActThecl 1-25) beginnt mit der Begegnung zwischen Onesiphorus und seiner Familie mit Paulus. In diesem Text wird erzählt, wie Onesiphorus, den wir aus dem zweiten Timotheusbrief (1,16) kennen, gehört hatte, dass Paulus nach seiner Flucht aus Antiochien auf seiner Reise nach Ikonion auch nach Lystra kommen wollte (Apg 13,50 – 14,6). So wartete Onesiphorus mit seiner Frau Lektra und seinen beiden Kindern Zimmias und Zeno auf der königlichen Straße. Über den Apostelschüler Titus hatte Onesiphorus eine genaue Personenbeschreibung des Apostels. Er schaute sich deshalb alle genau an, die vorüberkamen. Dann „sah er Paulus kommen, einen kleinen Mann mit kahlem Kopf und krummen Beinen, kraftvoll, mit zusammengewachsenen Brauen und leicht hervorstehender Nase, voller Gnade (χαρις), sein Gesicht schien bald das eines Engels, bald eines Menschen zu sein.“[9] Im zweiten Abschnitt erklärt Paulus im Haus des Onesiphorus seine Lehre von der Enkrateiea (>Enthaltsamkeit) und der Auferstehung: „Als Paulus das Haus des Onesiphorus betrat, war die Freude groß; die Knie wurden gebeugt, das Brot gebrochen und das Wort Gottes von der Enkratéia(יεγκράτε̃ια) und der Auferstehung verkündet.“ Im folgenden Text werden Paulus 13 Seligpreisungen in den Mund gelegt. Darunter heißt es: „ Selig, die das Fleisch keusch (griechisch:יαγνός = hagnos) bewahren, denn sie werden Tempel Gottes werden. Selig die Enthaltsamen, denn zu ihnen wird Gott sprechen. Selig, die dieser Welt entsagt haben, denn sie werden Gott gefallen. Selig, die Frauen haben, als hätten sie keine, denn sie werden Gottes Erbe empfangen. ….Selig die Körper der Jungfräulichen, denn sie werden Gott gefallen und den Lohn ihrer Keuschheit nicht verlieren …“[10] Die hier angesprochene Enkrateia betrifft alle Menschen, unterschiedslos ob verheiratet oder nicht. Im dritten Abschnitt wird erzählt, wie Thekla von Paulus fasziniert ist. Aber Theklas Mutter Theoklia gefällt das Verhalten ihrer Tochter nicht, denn sie hat Angst, dass Thekla wie so viele andere junge Frauen von Paulus gegen die Ehe beeinflusst wird. Die Geschichte erzählt nun, wie die Mutter und Theklas Verlobter Thamyris, ein leitender Beamter der Stadt, gegen Paulus integrieren und die Massen gegen ihn aufwiegeln. Paulus muss sich vor dem Statthalter rechtfertigen und wird ins Gefängnis geworfen. Doch Thekla erkauft sich durch ihren Schmuck den Zugang zur Zelle, in der Paulus auf seinen Prozess wartet. „So gelangte sie zu Paulus, setzte sich zu seinen Füßen, und hörte von den Großtaten Gottes. Ohne die geringste Spur von Angst, dafür mit Zuversicht auf Gott, agierte Paulus wie ein freier Bürger. Thekla Glaube wuchs. und sie küsste seine Fesseln.“ (Ikonium-Zyklus, III,6). Das Eindringen von Thekla ins Gefängnis zu Paulus wird verraten. Weil Thoklia ihre Tochter verstößt und die Verbrennung fordert, kommt es zum Urteil .Der Statthalter lässt Paulus geißeln und aus der Stadt verbannen. In einer Wundergeschichte wird nun geschildert, wie Thekla im Theater verbrannt werden soll. Obwohl selbst der Statthalter ihren Mut bewundert, wird das Feuer angezündet. Doch ein plötzliches Gewitter löscht das Feuer. Den Abschluss bildet die Begegnung von Thekla und Paulus in einer Grabeskammer und dass Paulus Thekla die Taufe verweigert, weil sie noch nicht so weit sei.
Der Antiochia – Zyklus (ActThecl. 26-39) erzählt, wie sich Paulus von Onesiphorus und dessen Familie verabschiedet und mit Thekla nach Antiochia ging. Hier begegnet Thekla einem leidenden Priester (Syriarch) mit Namen Alexander. Dieser verliebt sich auf offener Straße in Thekla. Diese wehrt sich, zerreißt dem Vergewaltiger die Robe und reißt ihm die Krone vom Kopf. Daraufhin liefert Alexander Thekla dem (römischen) Statthalter aus. Dieser verurteilt sie „ad bestias“, zum Tod in der Tierarena. Auf Drängen einer solidarischen Frauengruppe wird Thekla vor der (vorherigen und allgemein üblichen) Vergewaltigung geschützt und Tryphäna, einer wohlhabenden Frau aus kaiserlichem Geschlecht, in Gewahrsam gegeben. In einer kurzen Wundergeschichte wird nun erzählt, wie Thekla von der Löwin verschont wird, indem diese ihr nur die Füße leckt. Bis zum erneuten „ad bestias“ am folgenden Tag, bleibt Thekla bei Tryphäna, die immer noch um ihre jüngst verstorbene Tochter trauert. Thekla betet:“Mein Gott, Sohn des Höchsten im Himmel, gib ihr nach ihrem Willen, dass ihre Tochter Falkonilla in alle Ewigkeit leben wird.“ Am folgenden Tag wird Thekla erneut in die Arena gebracht. „Die Männer schreien: In die Arena mit der Tempelräuberin! Die Frauen dagegen: Die ganze Stadt soll untergehen wegen dieser Gesetzeswidrigkeit. Dann folgt eine erneute Wundergeschichte, in der Thekla wieder von den Bestien gerettet wird. Eine Löwin verteidigt sie vor den Bären und Löwen. Dann springt Thekla in das Wasserbecken mit wilden Robben, um sich vor ihrem Tod selbst zu taufen. Ein Blitz rettet sie. Auch als sie zwischen zwei Stiere gespannt wird, verbrennt eine Feuerwolke. die Stricke. Da wird Tryphäna in ihrer Ehrenloge plötzlich ohnmächtig. Ihre Diener schreien, sie sei tot. Das lässt die Stimmung umschlagen. Thekla wird begnadigt und die frommen Frauen jubeln: “Groß ist Gott, der Thekla gerettet hat“. Am Schluss wird erzählt, wie Tryphäna mit ihrem ganzen Haus gläubig wird: „Nun glaube ich, dass Tote auferweckt werden: Nun glaube ich, dass mein Kind lebt. Komm herein, und alles, was mir gehört, überschreibe ich dir. Thekla ging mit in ihr Haus und ruhte sich dort acht Tage aus. In dieser Zeit brachte sie ihr das Wort Gottes nahe, so dass auch der Großteil der Dienerinnen gläubig wurde. Und groß war die Freude im Haus.“
Der Erzählrahmen (ActThecl. 40-42) rundet die Geschichte ab, indem er den Bogen zum Anfang zurückschlägt. Mit einer Gruppe junger Männer und Dienerinnen sucht Thekla, als Mann verkleidet nach Paulus. In Myra findet sie ihn. Sie erzählt ihm alles, was passiert ist, wie sie wunderbar gerettet wurde und sich im Bassin der wilden Robben selbst getauft habe, „Paulus bewunderte sie sehr dafür.“ Als Thekla ihm sagt, dass sie zurück will nach Ikonium, gibt Paulus ihr Segen und Vollmacht: „Geh hin und lehre das Wort Gottes“. In Ikonium lebt nur noch ihre Mutter: “Theoklia, kannst du glauben, dass der Herr im Himmel lebt? Was auch immer du zum Leben brauchst, der Herr wird es dir durch mich geben, und wenn du dein Kind brauchst, dann stehe ich Dir zur Seite. Als sie dies feierlich versprochen hatte, ging sie nach Seleukia; und nachdem sie viele durch das Wort Gottes erleuchtet hatte, entschlief sie mit einem schönen Traum.“ [11]
In der Studie von Martin Ebner finden sich viele Hinweise zum besseren Verständnis des Textes. Dazu gehört auch die Feststellung, dass die beiden Zyklen unterschiedliche kirchliche Entwicklungsstufen widerspiegeln. Im Antiochia –Zyklus ist das Thema Enkrateia noch nicht bestimmend, die verheiratete Frau ist die Normalität und die antike Freude am Wunderbaren ist im ganzen Text zu spüren. Paulus spielt keine besondere Rolle. Anders im Ikonium – Zyklus. Hier gibt es bereits die Hauskirche, Enkrateia ist sowohl für das eheliche wie das außereheliche Leben bestimmend und die Vitae von Paulus und Thekla werden eng miteinander verbunden. Die Theklageschichte spiegelt somit wider, wie die Tendenz zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit in der frühen Kirche an Bedeutung gewinnt.[12]. Die Entwicklung des Christentums bis in die Spätantike hinein (also etwa bis ins 4/5. Jahrhundert) war keineswegs ein homogener Prozess. Die innerkirchlichen Auseinandersetzungen waren oft von Hass und Feindseligkeit begleitet und immer auch ein Verdrängungswettbewerb. Neben der Interpretation der biblischen Traditionen (Christologie, Kanonbildung) und den Kämpfen um die Gestalt der Kirche als Institution (Klerikalisierung, Herausbildung des monarchischen Episkopats) spielte die Auseinandersetzung um Ehe und Sexualität immer eine zentrale Rolle. Dabei bildete sich ein Lebensideal heraus, das mit dem griechischen Wort Enkrateia begrifflich gefasst wurde und das wir in diesem Zusammenhang mit sexueller Enthaltsamkeit zu übersetzen haben. Wir stoßen hier auf ein Schlüsselthema (topos / locus), das bis in unsere Zeit hineinwirkt, auch wenn dies kirchlicherseits oft verschleiert, wenn nicht sogar tabuisiert wird.
3. Enkratéia im biblischen Kontext:
Im klassischen Judentum findet sich die sexuelle Enthaltsamkeit im Zusammenhang mit den Vorschriften wegen der kultischen Unreinheit, wobei es unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen gab. Bei Frauen wurde die Menstruation thematisiert (Lev 15, 19 ff), bei Männern entstand kultische Unreinheit durch austretendes Sperma (Lev 15, 1- 18). Deshalb musste ein Priester vor seinem Tempeldienst sexuell enthaltsam leben, um nicht kultisch unrein zu werden. Aus diesem Kultverständnis heraus durfte ein Priester auch nur eine sexuell unberührte Jungfrau heiraten (Lev 21, 7), um nicht durch das Sperma eines anderen Mannes verunreinigt zu werden.
Im Spätjudentum bekam die sexuelle Enthaltsamkeit einen stärkeren Selbstwert und etablierte sich neben der hochgeschätzten Einehe als eigenes Lebensideal.
Dieser Prozess setzte sich in der frühen christlichen Kirche konsequent fort – jetzt allerdings angesichts der erwarteten Wiederkehr des Herrn (Apg 22,20).
Im 7. Kapitel des 1. Korintherbriefes äußert sich Paulus eingehender über Ehe und Enkrateia. Weil die Gestalt dieser Welt bald vergeht (V. 29.31), heißt sein Rat, nicht zu heiraten, also unverheiratet zu bleiben, wie er selbst (8. 26). Es ist besser, nicht zu heiraten (38), und wer verheiratet ist, der sollte „ sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine“ Frau (29).
Paulus selbst lebt so, wie er predigt: Er bleibt bewusst unverheiratet (7), auch wenn er offensichtlich kein Problem damit hatte, dass die übrigen Apostel mit einer Frau gemeinsam lebten. (1 Kor 9, 5). Darüber hinaus haben allerdings für Paulus sexuelle Bindungen und Handlungen einen negativen Touch: Heirat bringt irdische Not (28), zwingt zur Sorge um die Dinge dieser Welt und lenkt vom missionarischen Dienst ab (32 ff). Geschlechtsverkehr ist nur Zugeständnis angesichts menschlicher Triebhaftigkeit. Obwohl es gut ist, „für den Mann, keine Frau zu berühren. soll aber wegen der Gefahr der Unzucht[13] jeder[14] seine Frau haben, und jede soll ihren Mann haben.“ (7,1f).
Die Einstellung Jesu zu Ehe und Sexualität ist schwieriger zu erkennen, da die Evangelien von ihrer Zielstellung überformt sind, also den Glauben der frühchristlichen Gemeinden widerspiegeln.[15] Von jüdischer Seite (z.B. Schalom Ben Chorin) wird darauf hin gewiesen, dass es im Verständnis des klassischen Judentums den unverheirateten Rabbi nicht gab und deshalb Jesus wohl verheiratet war, auch wenn dies nicht eigens überliefert wurde. Aber wir wissen mittlerweile auch, dass es gerade im damaligen Galiläa stoische und jüdische Wandermissionare gab, die nicht verheiratet waren. So muss die Frage, ob Jesus verheiratet war, wohl offen bleiben. Nach dem Münsteraner Exegeten Martin Ebner[16] lebte Jesus in der Nachfolge des Wanderpropheten Elija (1 Kön. 19,19 – 21). Wer sich ihm anschließen wollte, musste „seinen Lebensstil teilen, wie Jesus den eigenen Clan, Haus und Besitz verlassen.“ Viele Jesusworte führen uns in die Zeit des „Wanderradikalismus Jesu“ [17] zurück (z.B. Mk 3,31 ff). Eine ganz neue Sicht der Nachfolge Jesu bringen die theologischen Forschungen des „Third Quest“ (Dritten Weges). In der (konstruierten) Logienquelle Q, in der Jesus – Worte gesammelt worden sind, fehlt beispielsweise in dem Wort vom Verlassen der Familie (Q 14, 26) als Voraussetzung für die Nachfolge Jesu die Trennung von der Ehefrau. Erst Lukas verbindet Nachfolge mit dem Verlassen der eigenen Frau (Lk.14, 26).Wir müssen damit rechnen, dass der Zwölferkreis in der Jesusgruppe aus zwölf Ehepaaren bestand, die der Anfang des neuen Israels sind. Von hier aus bekämen die Logien von der Ehescheidung eine ganz neue Bedeutung (Mk. 10, 2-10 par), dass auch die Nachfolge Jesu nicht berechtigt, sich vom Ehepartner zu trennen. Ebner formuliert dies ohne wenn und aber: “Wenn sich einer Jesus anschließen will, dann zusammen mit seiner Frau. Selbst wenn die Frau nicht mitgehen sollte, bleibt der Mann gebunden.“[18] Für den Juden Jesus gehörte die Ehe zur Schöpfungsordnung.
Von hier aus fügt sich nahtlos ein, dass Jesus offensichtlich eine große Freiheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht hatte. Es sind uns mehrere Szenen erhalten, die diese Frauenfreundlichkeit Jesu noch deutlich widerspiegeln. Jesus hatte keine Scheu, mit einer samaritischen Prostituierten am Jakobsbrunnen allein zu sein (Joh. 4,1 ff) und mit ihr ohne Zeugen zu sprechen; er wendet sich einer ihm nachlaufenden heidnischen Frau zu (Mk 7,24 ff) und lässt sich von einer fremden Frau in aller Öffentlichkeit die Füße salben (Mk 13,3 ff). Im Laufe der von Männern beherrschten Kanonbildung wurden allerdings die biblischen Überlieferungen konsequent „bereinigt“. So wurde das Bild von „ Jesus mit den 12 Aposteln“ in das kollektive Gedächtnis eingeführt. Frauen wurden zu Randfiguren im Leben Jesu umgedeutet oder ganz weggelassen[19].
Zusammenfassend lässt sich sagen: Unter dem Einfluss des Spätjudentums und frühgnostischer Strömungen in der Spätantike gab es bereits in den frühen christlichen Gemeinden Tendenzen der Abwertung von Sexualität und Ehe, wobei diese allerdings in Erwartung des bevorstehenden Weltenendes positiv als Entscheidung für Freiheit, Unabhängigkeit und Konzentration verstanden wurden.
4. Enkrateia in den christlichen Kirchen der Spätantike:[20]
Die erwartete Wiederkunft Christi blieb aus. Wir müssen einmal ganz unvoreingenommen den Anfang der Apostelgeschichte lesen, um zu verstehen, welch geistig – religiöser Zusammenbruch da passierte: „ Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen.“ (Apg 1, 11)
Im alttestamentlichen Buch des Malachias (Maleachi), steht am Schluss: „Bevor aber der Tag des Herrn kommt, der große und fruchtbare Tag, seht, da sende ich zu euch den Propheten Elija. Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muss.“ (Mal 3, 23f). Für die ersten Christen, die aus dieser jüdischen Tradition kamen[21], war es klar: Jesus ist der neue Adam, der Morgenstern, die Wurzel aus dem Geschlecht David, der Retter, der Messias, der Gottessohn, der Menschensohn, das Licht und die Wahrheit – alles Bilder aus den alttestamentlichen Schriften. Aber Jesus war vor allem auch der neue Elias, wie es in den Prophezeiungen zu lesen ist. Das “ Ja, ich komme bald. Amen, komm, Herr Jesus!“ (Apk 22,20) in der Johannesapokalypse ist keineswegs zufällig, es spiegelt das religiöse Spektrum der Jesusgemeinden. Deshalb ist es den frühen Kirchen >Gemeinden) so wichtig, die Jesusgeschichte als Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen darzulegen. Allerdings haben es ganze Generationen christlicher Theologen verschleiert, uminterpretiert und verdrängt, dass es in der frühen christlichen Kirche ein riesiges Problem gab: Das Maranatha (Komm, Herr) fand keine Erhörung.
Deshalb musste die frühe Kirche eine mehrfache Revision vornehmen, weil sich das Kommen des Herrn nicht ereignete und die christliche Kirche sich einrichten musste in dieser Welt. Der katholische Dogmatiker Walter Simonis ist nach meiner Kenntnis der erste katholische Theologe, der dieses Thema ohne wenn und aber aufgearbeitet und den Auferstehungsglauben in seiner Entfaltung aufgezeigt hat.[22]
Es ist hier nicht der Ort, dieser Geschichte des christlichen Osterglaubens nachzugehen. Am Ende steht jedenfalls das Reich Gottes als Fernziel der Menschheitsgeschichte und damit auch aller, die den Glauben angenommen haben (2 Thess.1,10) und sich von Jesus Christus durch seine Kirche (= Mittel und Weg) erlösen lassen.
Für unser Thema hier ist es wichtig, dass es im Rahmen dieser neuen Interpretation von „Schöpfung, Erlösung, Vollendung“, beeinflusst durch frühgnostische Anschauungen und die großen Verunsicherungen der Spätantike (z.B. Sexualisierung der Öffentlichkeit und gleichzeitig sexual –feindliche Phänomene), zu einer sehr schwerwiegenden Veränderung des christlichen Ethos kam.
Sehr summarisch lässt sich diese Lebensperspektive so umschreiben:
Im alten Bund gab es Sexualität und Ehe, aber durch Jesus Christus wurde das Reich Gottes eingeleitet, in dem es nur engelgleiches Leben (= ohne Sexualität) gibt. Wer jetzt schon Anteil haben will an diesem Gottesreich, der muss engelgleich leben. Nur für die Schwachen wird die Ehe noch zugestanden.
Wir wissen nicht genau, in welchem Umfang diese „Engellehre“, die in den gnostisch beeinflussten Gemeinden zur ausgesprochenen Sexual- und Ehefeindlichkeit weiter entwickelt wurde, verbreitet war, aber dass sie ein sehr einflussreiches Leitbild war, lässt sich durch viele Zeugnisse belegen. Wenn z.B. der berühmte Bischof Ambrosius († 397) in Mailand predigte, ließen besorgte Mütter ihre Töchter nicht zu dessen Predigten, weil dieser unverhohlen zu sexueller Enthaltsamkeit und Eheverzicht aufrief. Gerade für die jungen Frauen aus der römischen Oberschicht war diese Lehre von der Enthaltsamkeit als tugendhafter Lebensweg ausgesprochen anziehend. Sie konnten sich den Gefahren der Schwangerschaften entziehen und auch den Problemen frühzeitiger Witwenschaft, die zu neuer Heirat zwang. Von Hieronymus wissen wir, dass er Rom verlassen musste, weil sich aufgrund seiner Predigten die Töchter von angesehenen römischen Familien scharenweise der Ehe verweigerten. Die Enkrateia als Lebensideal bezog sich auch auf die eingegangene Ehe. Die Ehefrau, die ihren Gatten in bzw. nach der Hochzeitsnacht zum Verzicht auf Geschlechtsverkehr überredete, wurde zum heiligen Vorbild. Zumindest nach der Geburt des Stammhalters galt die lebenslange Enkrateia in diesem Denken als Königsweg christlicher Ehe.
Dieses enkratische Lebensideal findet sich auch im Paulusroman wieder: „Thamyris (der Verlobte der Thekla) aber sprang auf, ging auf die Straße und beobachtete alle, die bei Paulus ein und aus gingen. Er sah zwei Männer, die heftig miteinander stritten und sagte zu ihnen: Ihr Männer, wer ihr auch seid, sagt mir, wer da drinnen bei euch ist, der Verführer, der die Seelen der Jungmänner und der Jungfrauen täuscht, daß sie nicht heiraten, sondern ledig bleiben. Ich verspreche euch viel Geld, wenn ihr mir von ihm erzählt; ich bin nämlich der Erste der Stadt .Demas und Hermogenes sagten: Wer er ist, wissen wir nicht. Er bringt aber die Jungmänner um die Frauen und die Jungfrauen um die Männer, denn er sagt: Auferstehung gibt es nur für euch, wenn ihr keusch bleibt, wenn ihr das Fleisch nicht befleckt, sondern es keusch bewahrt.“
5. Enkrateia in der Kirchengeschichte:
Vor dem Hintergrund der Enkrateia-Tradition bekommt der Zölibat einen Stellenwert, der über den disziplinären Charakter (Priester dürfen wie die höheren Offiziere im römischen Heer nicht heiraten) weit hinausgeht. Wenn Jungfräulichkeit (also Verzicht auf Geschlechtsverkehr) und Zölibat (also Verzicht auf die Bindung an eine Frau oder einen Mann) die eigentliche Lebensform der Erlösten darstellt, bekommen diese zwangsläufig eine Vorrangstellung, so wie es bereits Paulus formulierte: „Wer seine Jungfrau heiratet, handelt also richtig; doch wer sie nicht heiratet, handelt besser.“ (1 Kor 7,38).
In diesem Zusammenhang wird es auch verständlich, warum sich in der christlichen Kirche so viele frauenfeindliche Tendenzen durchsetzen konnten, auch wenn dieser Prozess nicht einheitlich erfolgte. So gab es in der Kirche von Byzanz (die in der spätantiken Kirche die Rolle heutiger katholischer Kirche spielte) noch lange Zeit Diakoninnen, während die römischen Kirchenämter bereits „frauenbereinigt“ waren. Obwohl das II. Vatikanum die Ehe aufgewertet und die Lehre von den primären und sekundären Ehezwecken korrigiert hat, lebt die Enkrateia der spätantiken Kirche im kollektiven Bewusstsein unserer Kirche weiter. Wenn verheiratete Männer (z.B. anglikanische oder evangelische Pfarrer) zu Priestern geweiht werden, dann geschieht das, weil sie den Weg aus einer „schismatischen Kirche“ zur Katholischen Kirche gefunden hätten. Das Prinzip der Enkrateia wird damit nicht in Frage gestellt. Auch die Praxis der Orthodoxie wird nur als Zugeständnis für eine Teilkirche außerhalb der eigentlichen (= römischen) Kirche verstanden. Wären alle Ostkirchen volles Mitglied der Römisch – katholischen (= lateinischen) Kirche, brauchten sie nach diesem Verständnis der enkratisch – katholischen Kirche keine verheirateten Popen.
Wenn die Römische Kirche um „Priester- und Ordensnachwuchs“ betet, steht dahinter der Glaube an die jungfräuliche Kirche, die ohne Geschlechtsverkehr und Ehe auf die Wiederkunft ihres Bräutigams wartet. Die Jungfräulichen sind die Heiligen schon hier auf Erden. Die Schwachen, die für das Ideal der Enkrateia nicht tauglich sind, werden jedoch mitgenommen auf dem Weg der Erlösung.
6. Ausblick:
Durch die Lehre von der Enkrateia ist die Katholische Kirche wie in einem Netz gefangen. Eine Korrektur dürfte noch schwieriger werden als die Korrektur zu der Heilsmöglichkeit der Nichtgetauften durch das II. Vatikanum (Kirchenkonstitution Lumen gentium).
Zwei wichtige ausstehende Korrekturen sollen hier angedeutet werden:
Der erste Schritt ist eine Rückbesinnung auf die Botschaft vom guten Gott als zentrale Botschaft des christlichen Glaubens. Nicht Zölibat, Eherecht, Empfängnisverhütung, Sexualmoral, kirchliche Ämter, Papsttum und Strukturen sind die Mitte des Christentums. Das Christentum versteht sich nach dem ältesten Evangelium als „Frohbotschaft“ (Mk.1, 15): „Fürchte dich nicht“, ist die Gottesankündigung der ganzen Bibel. Wie das Volk Israel sind auch die Jünger Jesu als Botschafter in die Welt gesandt. In der christlichen Praxis (Gottesdienste, Beerdigungen, Lieder, Gebete, Feste…) und auch in der Theologie muss deshalb die Botschaft von der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes das entscheidende Thema sein. Alle christlichen Glaubensaussagen hängen ganz eng mit diesem Gottesbild zusammen. Wie der ganze Kosmos lebt jeder Mensch durch Gott (Schöpfungsglaube) und wird auch in Sterben und Tod von seiner Liebe nicht getrennt (Erlösungs- und Auferstehungsglaube). Die Vollendung der Schöpfung durch Gott (Eschatologie) ist innerster Kern der jüdisch-christlichen Tradition. Weil wir mit dem gesamten Kosmos die Geschöpfe Gottes sind, kann unser Leben trotz der vielen Schattenseiten der göttlichen Werdewelt im innersten positiv gestimmt sein (Theodizee), weil wir Menschen gemeinsam auf diesem Weg in die Vollendung sind und weil wir alle von Gottes Sonne leben, tragen wir auch füreinander Verantwortung (christliches Ethos und Soziallehre).
Als zweiten Schritt müssen die beiden Schöpfungsberichte (Gen.1f) wieder ihre normative Geltung für die Menschheit insgesamt erhalten: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er sie. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehret euch….“ (Gen. 1, 27 f , s.a. 2,4bff).. Die Liebe (auch die geschlechtliche) zwischen Mann und Frau ist die Normalform menschlichen Lebens. Sie ermöglicht das Weiterleben des Einzelnen wie der Menschheit insgesamt. Ganz im Sinne einer Wertehierarchie steht die Mann-Frau-Beziehung ganz oben auf der Skala. Nach der Schöpfungsordnung gibt es auch nachgeordnete Formen menschlicher Beziehung: Polygamie, Ehelosigkeit (Single) und gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Sie bedürfen besonderer Begründung und sind keineswegs von vornherein der Normalbeziehung Mann-Frau gleich- oder gar übergeordnet,
Im Rahmen dieser Werteskala bekäme die Enkrateia eine ganz neue Aktualität, indem sie die Sexualität an die Liebe bindet. Enkrateia wäre nicht die engelgleiche Form, sondern das Maß (im Sinne von Zucht und Maß) für alle Sexualität. Von hier aus ist es dann für Kirche völlig nebensächlich, ob der Träger eines kirchlichen Amtes verheiratet ist oder zölibatär lebt. Entscheidend ist nicht die gewählte Lebensform, sondern ihre gelebte Qualität (1 Kor 13 f).
Diese Korrekturen sind mit Sicherheit das Werk mehrerer Generationen, aber sie müssen begonnen werden, um Zeitfenster nicht zu verpassen. Oder ist es so ausgeschlossen, dass Gott seine Schöpfung auch ohne die Katholische Kirche vollenden kann?
[1] Man kann dies an den Selig- und Heiligsprechungen nachweisen.
[2] Das Thema „Missbrauch durch Priester und Ordensleute“ ist durch die Gesellschaft – also von außen – aufgezwungen worden.
[3] Verhütung, vorehelicher Verkehr, Schwangerschaft, Abtreibung, außereheliche Beziehung, Onanie, Ehescheidung……..
[4] Das Foto stammt von dem Beitrag von Renate Eibler, Die heilige Thekla eine Spurensuche, Webseite der Wiener Piaristenpfarrei,
[5] Anne Jensen, Thekla – Die Apostolin. Ein apokrypher Text neu entdeckt. Kaiser TB, Gütersloh 1999
[6] Martin Ebner (Hrsg), „ Aus Liebe zu Paulus? Die Akte Thekla neu aufgerollt“, Katholisches Bibelwerk 2005; Reihe: Stuttgarter Bibelstudien Nr. 206.
[7] Renate Eibler, Die heilige Thekla – eine Spurensuche, Webseite der Wiener Piaristenpfarrei, paulusundtheklaA5-5.PDF. Von hier stammt auch das Bild „Paulus und Thekla“, eine ägyptische Elfenbeinschnitzerei, ca 430.
[8] Äyptische Arbeit ca. 400. Quelle: Wikimedia.
[9] Bild: Griechisches Mosaik. Quelle.:Wikimedia.
[10] Übersetzung von Anne Jensen
[11] Bild: 17. Jahrhundert Spanien, Kathedrale von Barcelona. Quelle: Wikimedia.
[12] Hier hat gerade die Feministische Theologie Pionierarbeit geleistet. Neuere Veröffentlichungen von Anne Jensen: Frauen im frühen Christentum, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bern 2002; Gottes selbstbewusste Töchter, LIT Verlag Münster 2003.
[13] Im griechischen Text: dia de tas porneias.
[14] das „jeder / jede“ bezieht sich auf die vorher von Paulus zitierte allgemeine Frage aus Korinth, ob es gut sei, keine Frau zu berühren. Es ist also hier nicht gemeint, dass jeder Mann und jede Frau verheiratet sein müssen.
[15] Bild: jesus als guter Hirt. Römisch ca. 250. Quelle: Wikimedia.
[16] Martin Ebner , Jesus von Nazaret in seiner Zeit, Stuttgarter Bibelstudien 2004
[17] so Theissen
[18] Ebner S. 151
[19] Z.B. in den Auferstehungsberichten.
[20] Bild: Pilgerstätte in Ayathekla (Türkei) mit Bild der hl. Thekla. Quelle: Wikimedia.
[21] oder als Nichtjuden den jüdischen Traditionen nahe standen. Römische Leitbilder (Sonne) sind spätere Einflüsse.
[22] besonders: Auferstehung und ewiges Leben? Die wirkliche Entstehung des Osterglaubens, Patmos Verlag 2002