Die Geschichte meiner Rückkehr an den Altar

 

Wie das Ende zum Anfang wurde[1]oder die Geschichte meiner Rückkehr an den Altar.
Philosophen der Antike fragten: Was können wir wissen? Was dürfen wir glauben? Was können wir hoffen? Wie sollen wir leben?
Jesus von Nazareth, der jüdische Mystiker und Gottessohn, war zutiefst überzeugt, dass wir in der Hand Gottes geborgen sind und dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich zu verändern.
Immanuel Kant lehrte uns fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?
Der Weimarer Dichterkönig, Johann Wolfgang von Goethe, erinnerte uns daran: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Die eigene wahre Identität gefunden zu haben, ist die Grundvoraussetzung für Zufriedenheit, Glück, Gesundheit und ein langes Leben, so sagte es der Anthropologe Hermann Meyer.

 

Die Geschichte:

„Das war’s“, mit diesen zwei Worten von Mechthild Kappetein, der Vorsitzenden des HDH-Vereins und meiner langjährigen Freundin, wurden die 21 Jahre meines Engagements in Bendorf kurzerhand beendet und ich war mit meinen knapp 61 Jahren fristlos entlassen. Wieder einmal stand ich auf der Straße und schaute ratlos und verzweifelt in eine ungewisse und ungesicherte Zukunft. Wieder war es meine katholische Kirche, die sich mir von ihrer hässlichen Seite gezeigt hatte, denn der Verein war zwar juristisch ein freier Träger, aber das Bistum Trier war bei allen wichtigen Entscheidungen mit dabei. Für mich kamen neue gesundheitliche Einschränkungen dazu,  die wesentlich über meine bisherige Schwerbehinderung hinausgingen. Auch hatten meine Kräfte nachgelassen. Zwanzig Jahre unbediingten Engagements hatten an mir gezehrt. Dies als Hintergrund meiner Geschichte, die ich nun erzählen will.

Es war Mai 1997, und wir wohnten noch in meiner Dienstwohnung; aber in einem hinterhältigen Procedere war uns bereits gekündigt worden. Der Bilderbuchtag mit seinem strahlend blauen Himmel stand im ziemlichen Kontrast zu unserer Gemütslage. Ich saß mit Rosemarie (ϯ 1999)  auf unserer Terrasse beim Nachmittagskaffee. Wie so oft in den letzten Wochen sprachen wir auch jetzt über unsere eigentlich aussichtslose Situation. Da kam auf einmal um das Haus herum, also von hinten her, die damalige Pastoralreferentin der Bendorfer St. Medard-Pfarrei. Sie war eine schöne junge Frau und trug einen riesigen Hut mit einer geschwungenen breiten Krempe. Nach Einladung setzte sie sich zu uns, und wir plauderten miteinander. Mit einem charmanten Lächeln erklärte sie dann, der Pastor hätte sie mit einem etwas heiklen Anliegen geschickt. Er hätte nämlich gehört, dass ich in einer unschönen Geschichte auf die Straße gesetzt worden sei. Das täte ihm leid, doch er könne nichts dafür und könne auch nichts tun; doch dadurch  hätte ich nun Zeit und könnte bei den Gottesdiensten im Bendorfer Seniorenzentrum der AWO mithelfen. Das solle sie mir mitteilen.

Ich kann mich deutlich erinnern, wie es mir die Sprache verschlug. Seit meiner Entlassung aus dem priesterlichen Dienst im Februar 1971 war ich nie am Altar aufgetreten oder in einer Kirche als Liturge tätig gewesen. Das galt auch für meine Bendorfer Zeit. Ich  hatte zwar viele Teams zur Vorbereitung von Gottesdiensten geleitet und hatte auch viele Meditationen in der Kapelle des HDH angeboten; ich habe die Kapelle vorbereitet und aufgeräumt und war Ministrant, – das alles war für mich möglich,   aber nicht ein einziges Mal habe ich als Liturge  hinter dem Altar gestanden. Meine tiefe Verletzung nach meiner Entfernung aus dem priesterlichen Dienst und auch mein verletzter Stolz durch  die vielen erlittenen Diskriminierungen, versagten mir dies einfach. Im HDH habe ich zwar in der Osternacht viele Jahre das deutsche Exsultet gesungen, allerdings immer beim Einzug und deshalb vor der Kapelle. Jetzt, in dieser Situation, nach den erneuten negativen Erfahrungen mit meiner Kirche hatte ich erst recht keinen Grund, meine bisherige Haltung zu ändern. Immerhin wurde ich fristlos entlassen, ohne Anhörung, ohne eine solide Prüfung, ohne Offenlegung der Privatanliegen meiner Feinde. Sie hatten es geschafft, dass ich ihnen hilflos ausgeliefert war.  Nein, dieses perfide Spiel, mich zu rufen, wenn man mich brauchte, und mich wegzujagen, wenn  ich nicht in den Kram passte, das wollte ich nicht mehr mitspielen. Eine Tätigkeit als katholischer Liturge kam für mich nicht infrage, auch wenn mir der Pastor einen Engel vorbei schicken würde.

Doch dann kam es zu dieser  merkwürdigen Wende.

Während ich mit versteinerter Miene in die Gegend sah, begannen die beiden Frauen auf mich einzureden: Ich könne es doch wenigsten einmal versuchen; ich solle an die alten und kranken Menschen im Altenheim denken; der Pastor könne doch für die  Zölibatsprobleme des Papstes nichts; ich sei doch immer noch durch und durch nicht nur Theologe sondern auch Priester geblieben; die Trierer Prälaten seien letztlich nicht die Kirche und Unrecht habe es in dieser immer gegeben; so und so ähnlich wurde ich mit Argumenten und Gefühlen geradezu überspült. Auch Rosemarie hielt sich überhaupt nicht zurück. Sie, die immer sorgsam darauf geachtet hatte, dass ich nicht in eine klerikale Pseudo-Rolle zurückfiel, sondern meine Identität woanders suchte. Später habe ich begriffen, dass Rosemarie auch diesmal meine Lebenskrise erkannt hatte, in die ich – wesentlich gefährlicher als früher – abgestürzt war. Sie sah für mich eine Chance, in einer Seelsorgeaufgabe meine Fähigkeiten im Umgang mit Menschen neu zu entfalten. Für sie war der Kult nur die Eintrittstür. Und dann geschah das Wunder:  innerhalb von zwei Stunden ließ ich mich von den beiden Frauen umstimmen. Mir ging es wie dem biblischen Jona, den der große Fisch verschlungen  und ausgespieen hatte und der dann nach Ninive ging.

Mittlerweile gehe ich schon mehr als dreizehn Jahre an zwei bis drei Sonntagen im Monat in das AWO-Pflegeheim auf der Vierwindenhöhe. Ich halte Gottesdienst in einer wunderschönen Kapelle, teile die Kommunion aus, laufe mit Albe und Stola durch das Haus, singe und bete auf den Stationen,  spreche mit den alten Menschen auf den Fluren, umarme viele  und habe schon viele  in den Tod begleitet. Und das Erstaunliche: Keiner im Haus hat Anstoß geommen. Von den Hierarchen in Trier kamen keine Querschläge. Nicht einmal Klatsch gab es in Bendorf.

Zugegeben, der Anfang war etwas schwierig. Der Pastor ging einmal mit mir ins Altenheim und zelebrierte seine Messe (wie es so schön in der Theologensprache heißt), während ich die Lieder anstimmte. Dann brachten wir die Kommunion zu einigen Kranken. Das war gewissermaßen die „Amtsübergabe“, Es war schon eigenartig, wie ich wiederum erlebte, wie meine katholische Kirche von einem Tag auf den anderen von ihrem alltäglichen „pomp et organo“ abweichen konnte. Auf der einen Seite doktrinär bis zur Existenzzerstörung, dann wieder völlig problemlos mit einem unbegreiflichen Vertrauensvorschuss.

1976 als die Frauen des Hedwig-Dransfeld-Hauses beschlossen hatten, einen verheirateten Priester mit seiner Frau zu sich zu holen, zogen sie sich ihre schönsten Kleider an, fuhren nach Trier und hatten relativ schnell den Bischof Stein und seinen Generalvikar auf ihrer Seite. „Vergessen Sie alles, was war, jetzt sind sie bei mir“, so  der Bischof ein wenig später und klopfte mir wohlwollend auf die Schulter. Und der Generalvikar kam mir in seinem großen Büro auf die halbe Strecke entgegen und sagte: „Wenn Ihnen Frau Debray (Gründerin ders HDH[5]) vertraut, dann kann auch ich Ihnen vertrauen.“  Wie ein Wunder röffnete sich dann für mich ein Freiheitsraum für die Gestaltung der Arbeit, wie es in der katholischen Kirche eigentlich nicht einmal denkbar ist.

So war es auch jetzt. Nach der „Einführung“ durch den Pastor nahm ich Kontakt mit dem Heimleiter und dem evangelischen Pfarrer auf, kaufte mir einige liturgische Bücher, besorgte mir aus der Pfarrei eine Hostienschale mit Burse, und stellte mir aus den liturgischen Traditionen eine halbstündige Liturgie zusammen, die ich übrigens später  im Wesentlichen nicht mehr veränderte. Was mir half, war meine frühere seelsorgliche Erfahrung und meine theologische Weiterbildung, für die ich  nun als Rentner Zeit hatte. Anne Egbert, meine neue Lebensgefährtin, machte mir später Mut zu einer dreijährigen Ausbildung bei der Internationalen Gesellschaft für Lebensgestaltung und Sterbebegleitung, um fachlich solide zu bleiben. Von Anfang an wollte ich keineswegs so eine Art Ersatz-Mess-Priester sein. Ich bettete deshalb den Gottesdienst in ein Netzwerk von Gesprächen und Kontakten ein vor und nach dem Gottesdienst ein.  Der verheirateter Priester war überhaupt kein Problem. Für mich ist diese Erfahrung wieder ein Indiz, dass die ganze Zölibatsdebatte in der Römischen Kirche ein Phantom  darstellt. Für alle, die mich erlebten – und dies bis heute – war es offensichtlich kein Problem,  meinen Lebensweg zu akzeptieren. Ich konnte von meiner Lebensgeschichte als Flüchtlingskind, Diasporakatholik, zölibatärer  und verheirateter Priester erzählen, von meinen vielen Freunden in den evangelischen Kirchen, von meinem Leben in der DDR und in der Bundesrepublik, vom Sterben meiner Frau Rosemarie, von meiner neuen Lebensgefährtin Anne Egbert, von unseren Reisen und unserem ganz privaten Leben, von meinem Engagement im HDH, in der Kommunalpolitik und in Vereinen. Wichtiger als die Gebetsmeinung des Papstes war oft die Frage, was ich nach dem Gottesdienst kochte, ob wir am Nachmittag nach Maria Laach zum Vespergottesdienst fahren würden und was ich gerade an der Pallotinerhochschule in Vallendar studiere. Mein konkretes Leben war immer als Gesamtrahmen gegenwärtig,  dazu gehörten auch Filme im Kino, Fernsehen und wie es meinem Sohn wohl ginge, der Frühling oder die Vögel, die ich im Winter immer fütterte. Ich denke, weil ich mein Inneres öffnete, öffneten sich mir auch so viele Herzen. Ich hatte überhaupt keine Probleme, mich priesterlich zu bewegen. Auf einmal standen die Menschen im Vordergrund, ihr Lachen und Weinen, ihre Schmerzen und vor allem  ihre Lebensgeschichte. Manchmal passten die Sakramente nicht dazu. Ich habe Frauen und Männer erlebt, die von Religion und Kirche so beschädigt waren, dass das Aufdrängen der Krankenkommunion eine Sünde gewesen wäre. Die Frage nach der Konfession, also ob katholisch oder evangelisch, war in der Regel ohne Bedeutung. Ich erinnere mich an eine fromme evangelische Diakonisse, die ausdrücklich mich rufen ließ, und die ich dann auf ihr Sterben vorbereitete. Ich salbte sie mit Öl – ganz in der jüdischen Tradition– betete aus dem kleinen lutherischen Katechismus und sang evangelische Lieder aus dem Gotteslob. Als die Diakonisse ins Koma glitt, nahm ich meinen Rosenkranz und betete an ihrem Bett. Dann betete ich alle Totengebete, die ich schon bei Rosemarie in ihrer Sterbenacht  gebetet hatte. Diese Begleitung einer evangelischen Diakonisse durch einen verheirateten katholischen Priester war gelebte Ökumene und  ein großes Geschenk für mich.

Ein kleines Problem war anfangs die Anrede, doch das regelte sich von selbst:  Für manche war ich Herr Pastor oder Herr Pfarrer, andere reden mich als Herr Kittlauß an oder mit Dieter, mit Sie oder mit Du. Nur das verhasste  „Hochwürden“ habe ich nie akzeptiert. Ich lernte mit der Zeit, dass die Art der Anrede auch die Beziehung zu mir darstellte. Ähnlich war es mit der Entwicklung meiner liturgischen Kleidung. Der Pastor hatte mir darüber nichts gesagt, vielleicht auch weil ihm das Problem zu heiß war. Ich musste also die Frage der liturgischen Kleidung selbst lösen. Anfangs trug ich einen dunklen Anzug mit angestecktem Priesterkreuz, weißes Hemd und silbergraue Krawatte. Dann fragte mich eine eigentlich sehr konservative Frau: „Sie sind doch Priester, warum tragen sie nicht wenigstens  eine Stola?“ Also besorgte ich mir bei der Küsterin eine Stola, die von einem früheren Pastor stammte. Später  brachte sie mir noch Stolen in anderen Farben, offensichtlich gab es keinen Mangel daran. Irgendwann kamen dann einige Frauen auf mich zu  und klagten,  der schwarze Anzug sähe so traurig aus und erinnere sie immer an eine Beerdigung. Nach mehreren Gesprächen ergab sich schließlich als liturgische Kleidung eine weiße Albe mit einem kleinen Silberkreuz am Hals und die Stola in der jeweilig üblichen Farbe. Ein  Versand von Kirchendevotionalien aus München schickte mir alles und wünschte dem Herrn Pfarrer Gottes Segen. Manchmal war es wegen religiöser Ängste wichtig, mich als Priester noch deutlicher zu machen; deshalb war es angebracht,  einen priesterlichen Kollar zu tragen. Erstaunlicherweise hatte ich kein Problem damit, auch wenn mir die ganze klerikale Welt schon seit langem fremd, wenn nicht sogar zuwider ist. Also besorgte ich mir in Köln in  einem feschen Geschäft für Priesterkleidung ein römisches Kollarhemd. Es war für meine Verhältnisse ziemlich teuer.

Ich will in diesem Zusammenhang einen Gesichtspunkt ansprechen, der für mich sehr wichtig war und ist. In meiner Jugend als Ministrant erlebte ich die ganze Vielfalt katholischer Gottesdienste der vorkonziliaren Zeit.  Dazu gehörten auch die Priestermessen an den Nebenaltären, die (für uns) endlosen Levitenämter mit Weihrauch und großem Chor, die stillen Messen und das Requiem mit schwarzer Tumba. /Ersaatz für den Sarg). Durch die liturgische Bewegung kam die Gemeinschaftsmesse in deutscher Sprache, mit deutschen Liedern und Kommunionempfang dazu. Die Anerkennung der liturgischen Bewegung durch das II. Vatikanische Konzil veränderte die Gottesdienste der Katholiken radikal. Die Katholiken lernten nun auch, dass zu jedem Gottesdienst das Wort Gottes und zu jeder Messe  die Kommunion der Gemeinde gehört. Dies ist der theologische Grund, warum ich die Bezeichnung „Wortgottesdienst“ nicht gebrauche. Ein Gottesdienst, der keine Eucharistiefeier ist, hat keinesfalls einen geringeren Wert, ist also nicht eine Art Ersatzmesse. Weil wir als Katholiken so auf die „Priestermesse mit Brot und Wein“ fixiert sind, ist es wichtig, dass wir uns auf die Vielfalt von Gottesdienstformen besinnen und nicht eine gegen die andere ausspielen. In der frühen Kirche gab es neben den unterschiedlichen Formen des „Brotbrechens“ auch das (eucharistische) Herrenmahl mit Brot und Fisch, auch nur mit Brot. Das zentrale Geschehen ist ganz im lutherischen Sinne das Wort Gottes, das verkündet und geglaubt wird. Ich habe immer Wert daraufgelegt, Formen zu finden, die auch der Brotfeier, also dem Gottesdienst mit Austeilung der Kommunion, Erlebnischarakter geben. Von diesem theologischen Verständnis her, war mir auch die liturgische Kleidung nicht unwichtig.

Doch zurück zu meiner Erinnerung. In den ersten Jahren waren im Altenheim die Gottesdienste in einem Sicherheitsraum im Keller, der sich „Simultanraum“ nannte. Dies entsprach der früheren nicht-kirchlichen Tradition der deutschen Sozialdemokratie und damit auch der AWO. Nicht wenige Menschen wählten bewusst ein Haus der AWO, weil sie hier vor der Macht der Kirchen und ganz besonders vor der Katholischen Kirche  sicher waren. Also: Mit dem Aufzug ging es in den Keller, sechs Feuerschutztüren mussten hier überwunden werden. Es ging vorbei an den Waschräumen und den Sammelboxen für Schmutzwäsche. Für viele bedeutete somit der Gottesdienstbesuch eine Art Weltreise in die Unterwelt. Schließlich behalfen wir uns damit, dass wir die schweren Türen mit Keilen feststellten, obwohl das  im Konfliktfall als Straftat gegolten hätte. In den ersten Jahren hatte ich das Privileg,  dass mir ein Neunzigjähriger als Küster und Organist half, der im Winter auch mindestens zwei Stunden vorher die Heizungen aufdrehte. Trotz des beschwerlichen Zugangs war „meine Gemeinde“ in den ersten Jahren ziemlich groß, meistens waren es über 50 Gottesdienstbesucher.  Auch der Wunsch nach Krankenkommunion wurde oft ausgesprochen. Als das Haus vor einigen Jahren einen neuen Heimleiter erhielt, war ich sehr glücklich, dass sich der Wunsch nach einer anderen Kapelle realisieren ließ. Im Erdgeschoss wurde sie eingerichtet, mit wunderschönen Fenstern. Manchmal fühle ich mich wie ein römischer Bischof in seiner Privatkapelle.

Mittlerweile ist die Gemeinde kleiner geworden, fünf bis zehn Personen in der Kapelle, sechs im Wohnzimmer der Station 1, viele allerdings auf den Fluren, zu denen ich mich oft eine Weile setzen und mit ihnen über „Gott und die Welt“ plaudern kann. Wenn ich es recht beurteile, spiegelt sich sogar im Altenheim die wachsende Entkirchlichung und Säkularisierung wieder, denn ich kann nicht sagen, dass ich so etwas wie Kirchenfeindlichkeit erfahre.  Im Gegenteil, alle sind nett und freundlich, auch das Personal.

Entsprechend dem frühchristlichen Brauch, das Brot der Gottesdienstgemeinde in die Häuser zu den Alten und Kranken zu bringen, fahre ich vor meinen Gottesdiensten in die Krankenhauskapelle, bereite mich eine halbe Stunde meditativ vor und hole das eucharistische Brot aus dem Tabernakel. Es mir wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir als Christen alle in einer engen Beziehung zueinander stehen und daran uns das Brot aus dem Tabernakel in einer tiefen Sinnhaftigkeit erinnert. Wir sind als Christen nicht der gerettete Rest, auch nicht die religiöse Elite der verderbten Welt, sondern Sauerteig für die Spiritualität und das  Glück der ganzen Menschheit. Mittlerweile denke ich, dass die katholische Kirche (und nur hier habe ich umfassende Erfahrung) durch diesen urchristlichen Brauch, das eucharistische Brot der Gemeinde in die Häuser und Familien zu bringen, so etwas wie eine Renaissance erleben könnte. Die Brotfeier nach orthodoxem Ritus beim Ökumenischen Kirchentag in München auf dem Odeonsplatz, die viele Tausende Menschen mitfeierten, war ein gutes Beispiel, was es bedeutet, wenn wir die alten Formen des Brotbrechens wieder entdecken und einüben. Viele, so mein Eindruck, „erlebten“ zum ersten Mal, dass die Vielfalt der christlichen Kirchen keinesfalls identisch ist mit der Verkrustung der Römischen Kirche.

Ein wichtiges Anliegen war und ist es mir, Sterben und Tod in meine seelsorgliche Tätigkeit kontinuierlich einzubeziehen. Keineswegs zufällig gibt es in unserer katholischen Tradition den Brauch, „für den Nächsten aus unserer Mitte“ öffentlich bei der Beerdigung zu beten. Als Theologe wurde ich ausgebildet, die Spiritualität der Vorfahren selbst zu verstehen und dann anderen verständlich zu machen. Auch wir leben aus den spirituellen und sozialen  Erfahrungen der früheren Generationen, wir sind alle vom Denken und Glauben der Vorfahren abhängig und müssen doch ganz allein unseren Weg suchen und finden. Dem unbehausten Menschen kann „die Geborgenheit in der Hand Gottes“ (jüdische Mystik) die „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (Milan Kundera) verwandeln.

Von dem jüdischen Theologen Martin Buber stammt das  zeitlose Wort „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, das die personale Struktur von menschlichem Leben und damit auch seiner spirituellen Dimension beschreibt. Ich bin überzeugt, dass der flächendeckende Abbau von personaler Sinnvermittlung für die Katholische Kirche schlimmere Folgen als die Völkerwanderung oder der dreißigjährige Krieg haben wird und eine Frage des Überlebens.

Zum Schluss will ich drei ganz unterschiedliche Episoden erzählen. Die erste Episode handelt von meinem (früheren) neunzigjährigen Küster Heinz G. (ϯ). Er war mit seiner ersten Frau nach der Silberhochzeit in den Wohnbereich des Altenheims gezogen. Dann starb seine Frau. Wie viele zurückgelassene Männer, war auch er am Boden zerstört. Da lud ihn eine andere Wohninsassin zum Kaffee ein. Ich habe Heinz mit dieser Frau mehrere Jahre erlebt und begleitet. Sie hatten beide ihre Wohnungen und lebten doch sehr intensiv zusammen. Frau N., die zweite Lebensgefährtin, war eine sehr sensible Frau. Sie war damals bereits meistens auf ihrem Zimmer und saß, wenn ich kam, wie eine Königin in ihrem Sessel. Plötzlich wurde sie krank. Ich durfte sie auf den Tod vorbereitet. Als sie starb, durfte ich sie auch beerdigen. Weil Heinz nicht so lange stehen konnte, ließ ich um das offene Grab herum Stühle aufstellen, so dass wir uns alle setzen konnten. Es war ein tief beeindruckender Abschied. Aber nun war Heinz das zweite Mal allein. Da kümmerte sich eine Frau um ihn, die auch im Haus wohnte und mehr als zehn Jahre jünger war. Sie erzählte mir irgendwann, dass sie schon immer den Heinz heiraten wollte. Es war wie ein Wunder: aus den beiden wurde ein Liebespaar. In der alten Cafeteria des Altenheimes, oben im 5. Stock, feierten sie mit mir und Anne Egbert  den Beginn ihres gemeinsamen Lebens. Als diese (dritte) Frau starb, auch von mir vorbereitet und mit den kirchlichen Sterbesakramenten versehen, wollte Heinz nicht mehr leben. Er konnte kein Harmonium mehr spielen und zog sich zunehmend zurück. Es dauerte nicht lange, da bat er um meinen Beistand. Ich habe auch für ihn die Beerdigung gestaltet.

Die zweite Episode ist ganz anderer Art. Eines Tages rief mich der damalige Pastor unverhofft an und sagte, die Trierer  (gemeint war das Bistum Trier) hätten moniert, es ginge das Gerücht um, ich würde als laisierter Priester im Altenheim Messe feiern. Der Pastor war offensichtlich voller Angst. Doch ich konnte ihn beruhigen: „Sie können sich darauf verlassen, dass ich nicht zelebriere und das auch nicht tun werde. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen gegenüber immer offen und fair bleiben will“. Ich wählte für die Antwort bewusst seine Sprache, damit er mich auch verstand, und erklärte ihm den Ablauf meiner Gottesdienste. Nun nahm ich an, dass alles geklärt sei. Doch ich hatte mich geirrt. Ich merkte, dass der Pastor vor seiner eigenen Courage Angst bekommen hatte, vielleicht auch, weil ihn der Druck aus Trier zu stark geworden war. Denn ziemlich aggressiv und offensichtlich verärgert, fragte er, warum ich schon wieder einen ausgetretenen Katholiken beerdigt hätte und das sogar mit großer Trauergemeinde. Jetzt musste ich reagieren: „In Deutschland sind Beerdigungen kein Privileg der Kirchen mehr und das gilt auch für die Katholische Kirche. Im Übrigen zählen Beerdigungen für mich zu den Werken der Barmherzigkeit. Ich werde jeden beerdigen, wenn ich darum gebeten werde. “. „Ja, aber“, fragte er, „warum müssen Sie dann unbedingt mit Albe und Stola auftreten?“. „Jetzt musste ich in die Vorhand gehen: “Nach katholischem Selbstverständnis bin ich auch heute Priester und werde sogar vom kirchlichen Gesetzbuch verpflichtet, in bestimmten Situationen  priesterlichen Beistand zu leisten. Im Übrigen: Welche Kleidung ich bei einer Beerdigung wähle, hängt für mich ausschließlich von den Wünschen der Trauerfamilie ab“.  Gott sei Dank, haben wir dann doch zu einem herzlichen Ton gefunden. Es gab auch später zwischen uns keinen Misston mehr.

Die dritte Episode ist ganz anderer Art.  Sie hieß Resi und hatte ihr ganzes Leben als Dienstmagd gearbeitet. Resi war dement und lebte auf der 3. Station in einem Doppelzimmer. Sie saß immer auf einem Stuhl vor ihrem Zimmer. Resi kannte offensichtlich nur das eine Gebet: „Lieber Heiland sei so gut, lasse doch Dein teures Blut in das Fegefeuer fließen, wo die Armen Seelen büßen. Ach, sie leiden große Pein, wollest ihnen gnädig sein. Höre das Gebet der Deinen, die sich alle hier vereinen: Nimm die Armen Seelen doch heute in den Himmel noch. Amen“. Obwohl ich gerne den Rosenkranz bete, würde ich dieses Gebet nie beten – so war jedenfalls meine damalige Einstellung, bis ich verstand, dass dieses Gebet der Schlüssel zum Geist und zum Herzen von Resi war. Von da ab holte ich mir einen Stuhl, setzte mich neben sie und begann mit diesem „schrecklichen“ Gebet. Sogleich schlug Resi die Augen auf und betete mit. Wir  haben „ihr“ Gebet manchmal zehn Mal hintereinander gebetet, und Resi war immer ganz glücklich. Wie sagt Faust? Das, was die Welt im Inneren zusammenhält, ist die Liebe.

Nachspiel

Bei der Untersuchung meiner arthritischen Kniee wurde festgestellt, dass sich bei mir der Knorpel aufgelöst habe. Ich werde mich deshalb dem langwierigen Prozess der Knieendoprothesen stellen müssen. Dies bedeutet erst einmal Abschluss meiner Aufgabe im Altenheim.  Ich musste dreimal operiert werden und die Rehazeit gestaltete sind langwierig. Da ich 76 werde, habe ich meinen Seelsorgedienst im Pflegeheim beendet. Es war eine wunderbare Zeit. Anne wies mich daraufhin, dass ich mehr Sakramente als der Papst erhalten habe: Taufe, Erstkommunion, Firmung, Priesterweihe, Ehe, Ehe, Krankensalbung. Manchmal fühle ich mich wie einer der sieben Aufrechten.

Zwei Zitate zum Schluss.

Ein Mann,

der Herrn K. lange nicht gesehen hatte,

begrüßte ihn mit den Worten:

„Sie haben sich gar nicht verändert.“
„Oh!“ sagte Herr K.

und erbleichte.

(Bert Brecht)

 

Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen.

Mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen.

Mein ist der Augenblick, und gebe ich auf ihn Acht,

bin ich bei dem, der Zeit und Ewigkeit gemacht.

(Andreas Gryphius)

 

 

 

 

 


[1] Frei nach Tiziani Terzano

[2] Hedwig-Dransfeld-Haus in Bendorf

[3] Diese Formulierung stammt pikanterweise aus einem päpstlichen Dekret, das den Umgang mit laisierten Priestern regelte und hier die Trauung in der nur denkbar einfachsten Form bindend vorschrieb..Hier soll dieses Wortspiel zum Ausdruck bringen, wie einfach sich Dinge in der Kirche klären lassen.

[4] Das Hedwig-Dransfeld-Haus kam aus der katholischen Frauenbewegung.

[5] Anneliese Debray hat maßgeblich nach dem Krieg das HDH geformt. Mehr als vier Jahre war ich ihr Assistent.

[6] Es war auch in den 80er Jahren nicht üblich, die Leitung von kirchlichen und kirchennahen Einrichtungen an einen laisierten Priester zu übertragen.

[7] Gestaltete Hülle aus Pappe und Stoff.

[8] Für viele meiner Gottesdienstbesucherinnen und Besucher war eine halbe Stunden gerade die mögliche Länge, um durchzuhalten.

[9] Die texte sind in einem eigenen Beitrag hier dargestellt.

[10] Durch die Internationale Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebensbeistand. IIGSL) bekam ich das Zertifikat als Trauer- und Sterbebegleiter

[11] Mit dieser Formulierung will ich nicht provozieren sondern lediglich auf eine Tatsche hinweisen. Die sakramentale Einordnung der sogenannten letzten Ölung geschah in der Römischen Kirche erst durch das Konzil von Trient.

[12] Die Stola, ein weißer oder farbiger Stoffstreifen, war ursprünglich das Amtszeichen der Römischen Senatoren und wurde später von der christlichen Kirche übernommen. Allein an der Geschichte der Stola könnte man die Kirchengeschichte darstellen.

[13] Sargähnliches Holzgestell auf hohen Beinen mit schwarzem Tuch umhüllt.

[14] Die meistens aus der evangelischen Tradition kamen und in eigenen Gesangbüchern (z.B Kirchenlied) nun auch von den Katholiken gesungen wurden.

[15] Wir vergessen oft, dass die Generationen vor uns anders dachten, anders sprachen und anders lebten. Dazu gehört auch die Verlängerung des Lebensalters (in den letzten 130 Jahren Verdopplung).

Kittlauss Jul 24th 2012 02:58 am Biographisches Keine Kommentare bisher Facebook Kommentare

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